Brüssel : Die Fronten auf dem europäischen Krisengipfel
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Hände weg von den Krediten: Demonstranten vor dem Brüsseler Gipfeltreffen Bild: REUTERS
Dass im Euroraum künftig mehr Haushaltsdisziplin nötig ist, bestreitet niemand. Wie das erreicht werden soll, ist aber heftig umstritten.
Es gab in den vergangenen Jahren mehrere EU-Krisengipfel, die in der Komplexität der Streitfragen und in der Dauer das übliche Maß sprengten. Der aktuelle Gipfel, der am Donnerstagabend mit einem gemeinsamen Abendessen aller 27 Staats- und Regierungschefs begonnen hat, dürfte seine Vorgänger noch einmal übertreffen. Das hat weniger den Grund, dass sich die Teilnehmer komplett uneinig wären über die Richtung, in die sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik im Euroraum entwickeln muss.
Es liegt eher daran, dass es auf diesem Gipfel mehrere Streitfronten gibt. Die eine Auseinandersetzung handelt von der finanz- und währungspolitischen Substanz: Es geht um die Frage, in welches Verhältnis die Haushaltsdisziplin in den Mitgliedstaaten und diverse Rettungsinstrumente zu bringen sind. Die andere Front ist eine juristisch-institutionelle: Sie handelt von der Frage, in welchem Umfang angestrebte inhaltliche Änderungen, im Wesentlichen die Verschärfung der Haushaltsaufsicht, auch eine Änderung der Europäischen Verträge erfordern.
In Brüssel wird vor Verkürzung gewarnt
Natürlich hängen beide Aspekte zusammen. Inhaltlich deckungsgleich sind sie aber keineswegs. Die Bundeskanzlerin hat zum Auftakt des Gipfels noch einmal ihr Diktum bekräftigt, dass allein eine Vertragsänderung dauerhaft Haushaltsdisziplin im Euroraum sichere. Für diese Sicht der Dinge hat sie den französischen Staatspräsidenten auf ihre Seite gezogen. In den EU-Institutionen - im Umfeld von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und von Kommissionspräsident José Manuel Barroso - wird Merkel nicht darin widersprochen, dass eine Vertragsänderung wünschenswert wäre.
In Brüssel wird aber vor einer Verkürzung gewarnt: Am wichtigsten sei, dass auf dem Gipfel schnell wirksame Schritte zur Verbesserung der Haushaltsdisziplin erreicht würden. Ob diese über eine „richtige“ Änderung der Verträge zustande kämen, sei nicht allein entscheidend. Van Rompuy hat in seiner Tischvorlage für den Gipfel darauf hingewiesen, dass Verschärfungen der Haushaltsregeln auch auf vereinfachtem Weg - über ein Protokoll zum Vertrag, in dem bisher zum Beispiel die Maastricht-Kriterien spezifiziert sind - möglich wären. Dies schien zum Gipfelauftakt auch die Lösung zu sein, die die meisten Länder favorisierten. EU-Diplomaten argumentieren, diese Lösung werde schneller wirksam und beeindrucke deshalb auch die Märkte eher.
Automatische Sanktionierung von Haushaltssündern
Die Bundesregierung beharrt indes auf einer „richtigen“ Vertragsänderung - mit dem nachvollziehbaren Argument, dass sich alles, was einmal im Vertrag steht, schwer wieder ändern lässt. Inhaltlich ist der Berliner Fokus nach der deutsch-französischen Vorfestlegung indes begrenzt. Geändert werden soll Artikel 126 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, der den Ablauf der Defizitverfahren detailliert beschreibt. Das deutsche Ziel ist es, im Vertrag für das gesamte Verfahren die „umgekehrte qualifizierte Mehrheit“ festzuschreiben. Sie bedeutet, dass der Rat, die Vertretung der Staaten, die Einleitung und Verschärfung eines Defizitverfahrens gegen ein Land nur noch mit qualifizierter Mehrheit aufhalten könnte.
Ansonsten gälte automatisch die entsprechende Sanktionsempfehlung der EU-Kommission. Auf diesem Wege wäre die (fast) automatische Sanktionierung von Haushaltssündern auf allen Stufen eines Verfahrens vorgesehen. Mit der kürzlich beschlossenen Verschärfung des Stabilitätspakts, die in der kommenden Woche in Kraft tritt, ist dieser Quasiautomatismus für einige Verfahrensstufen schon eingeführt worden - dort, wo es auch ohne Vertragsänderung möglich ist.
Ein Jahr ringen um „Sixpack“
Um die genannte Verschärfung der Pakt-Verordnungen, in Brüssel „Sixpack“ genannt, ist mehr als ein Jahr gerungen worden. Angewandt wurde die neue Regel bislang noch nicht, deshalb lässt sich über ihre Wirksamkeit noch nichts sagen. Kritiker sagen, es zeuge von wenig Vertrauen in Verschärfung des Pakts, wenn die Regeln nun schon wieder geändert würden. Ob die Logik der umgekehrten qualifizierten Mehrheit jene politische Bindekraft erhält, die sich ihre Befürworter erhoffen, ist ohnehin offen.
Skeptiker verweisen darauf, dass die Staaten die Kommission auch auf anderem Weg als über die Defizitverfahren unter Druck setzen können. Defätisten fügen hinzu, die Bundesregierung habe ohnehin zu großes Vertrauen in das geschriebene (Vertrags-)Wort, das in der EU schon öfter gebrochen worden sei, wenn es politisch opportun erschien. Wie auch immer: Komplett dem politischen Zugriff entzogen wird die Haushaltsaufsicht auch künftig nicht sein.
Wenn sich die Bundesregierung vor diesem Hintergrund komplett auf die Vertragsänderung kapriziere, könne sie zu ungewünschten Zugeständnissen auf anderen Feldern gezwungen sein, hieß es zum Gipfelbeginn in Brüssel. Dass zusätzliche Beschlüsse für eine verstärkte Haushaltsaufsicht notwendig sind, war weitgehend unstrittig; auch dass es dafür zu Regeländerungen kommen muss. Viele EU-Staaten sehen die verschärfte Aufsicht aber nur als eine Seite der Medaille. Stellvertretend für viele sagte kürzlich der polnische Finanzminister Jacek Rostowski, bessere Regeln für eine stabilitätsorientierte Haushaltspolitik seien zwar unerlässlich, sie wirkten aber erst mittel- und langfristig.
Sie müssten verknüpft werden mit der schnellen Errichtung einer höheren „Brandmauer“, also weiteren Hilfszusagen an gefährdete Länder. Die Diskussion darüber hat sich vor dem Gipfel wieder verstärkt. Sie reicht von einer Ausweitung des Krisenfonds EFSF über zusätzliche Kredite des Internationalen Währungsfonds bis zu Eurobonds. Ob die Bundesregierung all diese Instrumente verhindern kann, ist zumindest offen.