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EZB-Kritiker gegen Brüssel : „Die Kommission stellt die ultimative Machtfrage“

Vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wehen die Fahnen der EU und Deutschlands gleich hoch Bild: dpa

Die EU-Kommission hat wegen des Karlsruher EZB-Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet. Die Reaktionen reichen von Unterstützung bis Kopfschütteln. Die Kläger gegen die EZB reagieren mit beißender Kritik.

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          Die EU-Kommission sieht wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleiheaufkäufen der Europäischen Zentralbank in Deutschland fundamentale Rechtsprinzipien verletzt und eröffnet deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Das Spektrum der Reaktionen auf diese spektakuläre Entscheidung reichte am Mittwoch in Brüssel von Unterstützung bis Kopfschütteln, in Deutschland äußerten vor allem die Kläger im Karlsruher Verfahren scharfe Kritik.

          Corinna Budras
          Wirtschaftskorrespondentin in Berlin.
          Werner Mussler
          Wirtschaftskorrespondent in Brüssel.

          „Damit stellt die Kommission die ultimative Rechts- und Machtfrage in der EU“, kritisierte der Ökonom und AfD-Mitbegründer Bernd Lucke, der die Karlsruher Entscheidung zum Anleihenkaufprogramm PSPP vor rund einem Jahr mit erstritten hat. „Sie will durchsetzen, dass auch der schutzwürdigste Identitätskern der nationalen Verfassungen vom EU-Recht überlagert wird. Damit provoziert die Kommission enorme Konflikte in der EU, weil sie ihre souveränen Mitgliedstaaten wie nachgeordnete Gliedstaaten behandelt.“

          Gauweiler: Brüssel schadet sich selbst

          Auch der ehemalige CSU-Politiker und Kläger Peter Gauweiler pocht darauf, dass sich Deutschland die Möglichkeit des Eingreifens in extremen Ausnahmefällen bewahrt. Das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte „Ultra-Vires-Prinzip“, das den Kompetenzen von EU-Institutionen und speziell dem Europäischen Gerichtshof Grenzen setzt, sei geltendes Verfassungsrecht, das nicht Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein könne, sagte Gauweiler der F.A.Z. „Alle EU-Vertragsstaaten wissen, dass Deutschland ohne Beachtung dieses Prinzips dem Lissabon-Vertrag niemals zugestimmt hätte.“ Dass EU-Organe nur innerhalb ihrer Kompetenzen handeln und nicht von Brüssel aus verschoben werden dürfen, sei bisher Geschäftsgrundlage der Verträge gewesen. Die EU-Kommission schade sich mit der Verfahrenseröffnung selbst, „weil sie durch diese Missachtung der Volkssouveränität ihrer Mitgliedsstaaten und des Demokratieprinzips die Zweifel an ihrer eigenen Vertragstreue weiter stärkt“, sagte Gauweiler.

          Markus Kerber, Münchener Ökonom und Jurist, auch er ein Kläger in Karlsruhe, sagte, er sei glücklich über das Vertragsverletzungsverfahren, „dessen Bedeutung wohl in der einschüchternden Wirkung auf Karlsruhe liegen dürfte“.

          Als Begründung für ihren Schritt nennt die EU-Kommission, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung den Vorrang des europäischen Rechts in Frage stellt. Dieser Vorrang ist in den EU-Verträgen angelegt und vom Europäischen Gerichtshof in vielen Entscheidungen ausbuchstabiert worden. In Frage steht aber, unter welchen Umständen er gilt. Die „Ultra-vires“-Doktrin der Karlsruher Richter stelle praktisch einen Verstoß gegen das EU-Recht dar.

          Wenn das Schule mache, dann könnte das zu einem „Europa à la carte“, sagte ein Kommissionssprecher. Europäisches Recht müsse aber überall und für alle Bürger gleich angewandt werden. Unverständnis überwog in Brüssel auch mit Blick auf den Zeitpunkt. Laut Karlsruher Urteil sollten Bundesregierung und Bundestag darauf hinwirken, dass die EZB nachträglich prüft, ob die Anleihekäufe verhältnismäßig waren. Das ist inzwischen erledigt, wie das Verfassungsgericht Ende April selbst bestätigte. Man hätte den Konflikt also ruhen lassen können.

          Aber das ging aus Sicht der EU-Kommission nicht, weil inzwischen andere das deutsche Urteil für sich nutzen. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte schon 2020 von einem „der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union“ gesprochen. Die Luxemburger Richter hatten Polen Ende Mai in einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Förderung von Braunkohle im Tagebau Turow zu stoppen. Doch Morawiecki widersprach. Man werde nicht die Energiesicherheit polnischer Bürger aufs Spiel setzen, „nur weil irgendwer im (Europäischen) Gerichtshof diese oder jene Entscheidung getroffen hat“, sagte der Regierungschef damals. Dieser Konflikt ist auch nach Erläuterung aus der EU-Behörde der eigentliche Hintergrund der Verfahrenseröffnung.

          Das Verfahren richtet sich formal an die Bundesregierung. Freilich wünscht sich die Kommission nicht nur von dieser, sondern vor allem von der Karlsruher Richtern die Zusicherung, am Vorrang des EU-Rechts nicht rütteln zu wollen. Wegen der richterlichen Unabhängigkeit und des Selbstverständnisses des Bundesverfassungsgerichts dürfte dieser Wunsch kaum in Erfüllung gehen. Deshalb fragen sich viele Brüsseler Beobachter, was am Ende des Verfahrens stehen könnte.

          Der CSU-Europaabngeordnete Markus Ferber nannte die Kommissionsentscheidung „schwer nachvollziehbar“. Bundesregierung und Bundestag, die ihm EZB-Verfahren die Beklagten waren, hätten sich nach dem Karlsruher Urteil „stets bemüht, ein schwieriges Urteil klug umzusetzen“, sagte Ferber. Die deutsche Politik, die sich jetzt mit dem Verfahren auseinandersetzen müsse, habe sich „nichts zuschulden kommen lassen“ und die von Karlsruhe beanstandeten Tatbestände schon aus dem Weg geräumt. Deshalb sei das Verfahren „mehr als unangemessen“. Es gebe „keinen Grund für Brüsseler Prinzipienreiterei“.

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