Spanien unter dem Islam : Damals war religiöse Toleranz Familiensache
- -Aktualisiert am
Der Kalif Abd al-Rahman III. empfängt den Mönch Johannes von Gorze an seinem Hof: Gemälde des katalanischen Künstlers Dionis Baixeras Verdaguer, 1885 Bild: INTERFOTO
Achthundert Jahre aus der Vogelperspektive: Brian A. Catlos erzählt die Geschichte von Al-Andalus im Stil einer Streaming-Serie und dekonstruiert die Mythen der Reconquista und ihrer Feinde.
Al-Andalus, das islamische Spanien, ist ein Kampfplatz der Geschichtswissenschaft. Während es die einen als Hort religiöser Toleranz und kultureller Hochblüte preisen, betonen die anderen seine Rolle als Motor des afrikanisch-muslimischen Sklavenhandels und seine ideologische Verhärtung unter der Herrschaft von Almoraviden und Almohaden. Der Ton der Debatte hat sich zusätzlich verschärft, seit die ideologischen Vordenker von Al Qaida und IS die Rückeroberung von Al-Andalus auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die Frage, ob das Kalifat von Córdoba eine höhere Zivilisationsstufe erreicht hatte als seine christlichen Widersacher, ist für manche Historiker zur Glaubensfrage geworden. Das west-östliche Duell der Kulturen, zurückgespiegelt ins Mittelalter, findet zwischen Buchdeckeln statt.
Der amerikanische Religionswissenschaftler Brian A. Catlos will dagegen zeigen, dass der andalusische Kulturkampf „auch eine Geschichte von Allianzen und Freundschaften“ war: zwischen Königen, Kalifen, Grafen und Emiren wie zwischen Gelehrten, Künstlern und einfachen Leuten. Um das zu beweisen, fährt er die gesamte knapp achthundertjährige Biographie von Al-Andalus mit dem historischen Kameraauge ab, oft aus der Vogel-, seltener aus der Straßenperspektive. Sie haben alle ihren Auftritt, der Eroberer Tarik ebenso wie Boabdil, der letzte Emir von Granada, die Geistesgrößen Ibn Ruschd, Ibn Wafid und Abulcasis, der Feldherr Almansor und der unvermeidliche Cid.
Der Vorteil dieser linearen, mit Karten und Illustrationen unterlegten Erzählweise liegt darin, dass sich die einzelnen Lebensphasen von Al-Andalus wie Episoden einer Streaming-Serie nacheinander abspulen: die frühe Expansion, die ersten Omajjaden, das Kalifat, die Taifa-Reiche, die almoravidische Restauration, das Emirat von Granada, sein Ende und die Vertreibung des Islams aus Spanien. Andererseits erfährt man zu wenig über die historischen Prozesse und Strukturen, die diese Epochen miteinander verklammern.
Die Clans kämpften für ihre Privatinteressen
Offenbar war der westgotische Adel, der die iberische Halbinsel bis 711 beherrschte, rasch zur Kollaboration mit den Invasoren bereit; warum leistete er, anders als die hispanische Kirche, nicht mehr Widerstand? Und warum fiel es den Muslimen umgekehrt so leicht, Christen und Juden in ihr Herrschaftssystem einzubinden? Abd ar-Rahman III., der erste Kalif von Córdoba, war Enkel einer baskischen Prinzessin und Sohn einer christlichen Konkubine. Um mit seiner hellen Haut und den blauen Augen arabischer zu wirken, färbte er seinen Bart schwarz. Toleranz war für seinesgleichen nicht nur Staatsräson, sondern Familiensache.
Ein Grund für diese Familiarität zwischen Alteingesessenen und Eroberern könnte in der Strukturähnlichkeit ihrer Sozialbeziehungen liegen. Goten, Araber und Berber waren in Clanverbänden organisiert. Einer dieser Clans, die Banu Qasi, stammte von einem zum Islam konvertierten römisch-gotischen Adligen namens Cassius ab. Bis zum späten zehnten Jahrhundert bildete das Territorium der Banu Qasi einen Puffer zwischen den christlichen Königen von Pamplona und den Emiren von Saragossa; eine der Niederlagen, welche die Heere der Franken regelmäßig bei Roncesvalles kassierten, geht auf ihr Konto. Ein anderer, arabischstämmiger Clan, die Banu Sarradsch, rivalisierte im fünfzehnten Jahrhundert mit den herrschenden Nasriden um die Macht im Emirat von Granada. Keiner der beiden Sippen wäre es eingefallen, für übergeordnete Ziele Krieg zu führen: Sie kämpften für ihre Privatinteressen im Rahmen der politischen Großwetterlage.