Hörspielreihe zum Grundgesetz : Im Wissen um die Würde des Menschen
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Konrad Adenauer, bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 genau um 17 Uhr in Bonn. Bild: Picture-Alliance
Triumph des Diskurses: Eine Hörspielreihe des WDR zeigt die erstaunliche Aktualität vieler Debatten auf, die bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes vor siebzig Jahren geführt wurden.
Die Trümmer rauchten noch. Landesparlamente gab es wieder, der amerikanische Marshallplan lief in Westdeutschland an, und Alltag wurde simuliert, aber das Land, das Krieg über ganz Europa gebracht hatte, lag im Herbst 1948 immer noch am Boden. Die Alliierten, die faktisch die Kontrolle hatten, nahmen in Ost und West weiterhin Demontagen vor; die Ruhr- und die Saarfrage waren ungeklärt; die großen Kriegsverbrecherprozesse machten der Bevölkerung allmählich das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Barbarei bewusst. Es ist verwunderlich, dass unter solchen Bedingungen ein Gremium wie der Parlamentarische Rat überhaupt in der Lage war, im Auftrag der drei westlichen Besatzungsmächte eine komplette deutsche Verfassung auszuarbeiten, provisorisch nur dem Geiste nach, weil ohne die Ostzone und das Saarland beschlossen. Eine visionäre Friedensverfassung musste es werden, ein Ordnungsrahmen, der die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Verfassung ziehen und den neuen deutschen Staat gegen Rassismus und Antisemitismus, Kriegstreiberei und Ungleichheit immunisieren würde.
Höchst erfolgreich konnte dieses frühe – vielleicht früheste – bundesrepublikanische Politikprojekt, dem lediglich die Vorarbeit des zweiwöchigen Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee aus dem August 1948 zugrunde lag, mit der Ausfertigung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 abgeschlossen werden. Ebenso mirakulös mutet aber noch etwas an: wie energisch, doch gesittet und zugewandt in der Form, wie rhetorisch geschickt, intellektuell fundiert, weitsichtig und gewissenhaft die Debatten in der Bonner Pädagogischen Akademie, wo der Parlamentarische Rat tagte, geführt wurden. Diese Dimension zeigt sich freilich nur, wenn man die in vierzehn Bänden niedergelegten Protokolle der Beratungen jener 70 Abgeordneten (fünf davon, aus Berlin gesandt, ohne Stimmrecht) intensiv rezipiert. Und eben das tut nun in anregender, die treffend reinszenierten Debatten wiederum klug debattierender Weise die dokumentarische Hörspielreihe „Guter Rat“ in der Regie von Benjamin Quabeck, Thomas Leutzbach, Petra Feldhoff, Annette Kurth und Claudia Johanna Leist.
Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen
Der Clou der für den WDR, den BR und den Deutschlandfunk produzierten Serie besteht darin, jeweils zwei der acht thematisch sortierten Folgen von einer Schriftstellerin oder einem Schriftsteller betreuen und durch eigene Stimmen erweitern zu lassen. Den Anfang macht Frank Witzel, der sich unter Seitenblicken vor allem auf Walter Benjamin auf den alles überstrahlenden Artikel 1, der die Unantastbarkeit der Würde des Menschen dekretiert, sowie auf die Absicherung der Presse- und Meinungsfreiheit in Artikel 5 konzentriert. Mit Eifer wurde um Formulierungen gerungen. Sollte das Bekenntnis zu den Menschenrechten „Grundlage“ von Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden sein? Theodor Heuss hätte „Fundament“ vorgezogen, auch „tragende Kräfte“ und „Unterpfand“ waren im Rennen. Und ging es um die Würde „des Menschen“ oder „des menschlichen Wesens“? „Unantastbar“ hielt übrigens nicht nur Heuss für „ein scheußliches Wort“ – und stützte es doch.
Schnell aber stand die Substanz zur Debatte, wenn beispielsweise darüber nachgedacht wurde, das Grundrecht der Pressefreiheit an die Pflicht zur Objektivität in der Berichterstattung zu binden, oder wenn man harte Wortgefechte über die Vor- und Nachteile von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht austrug (es wurde, zum Ärger der CDU, eine Kombination aus beidem). Özlem Özgül Dündar weist in Folge drei darauf hin, wie sehr sich Deutschland in jenen Jahren danach sehnte, nach dem Weltenbrand wieder in die europäische Völkergemeinschaft aufgenommen zu werden. Der Nationalstaat hatte seine Attraktivität verloren. „Das große Vaterland“, so sagt es hier Carlo Schmid (SPD), Justizminister von Württemberg-Hohenzollern, heiße „Europa“. Ein demokratischer Staat in einem geeinten Europa: In diesem Ziel bestand über die Parteien hinweg eine seltene – und aktuelle – Einigkeit.
Terézia Mora hat sich umstrittene Themenfelder ausgesucht
Beeindruckend ist auch die Bereitschaft aller Seiten zum Kompromiss, gehe es dabei um die von CDU und Zentrum geforderte „Invocatio Dei“ in der Präambel oder um SPD-Wünsche beim Wahlrecht. Obwohl der Struktur nach eine demokratische Legislativ-Institution mit Abgeordneten, einem Präsidium, Ausschüssen und Fraktionen, war der Parlamentarische Rat freilich nur indirekt, nämlich von den Landesparlamenten gewählt worden. In Folge sechs, die sich um die Haltung der Abgeordneten gegenüber plebiszitären Elementen dreht (nicht nur Theodor Heuss tut sich hier als Gegner von Volksbegehren hervor, die „in der Zeit der Vermassung und Entwurzelung“ die „Prämie für jeden Demagogen“ seien), weist Georg M. Oswald auf die Misslichkeit dieser Situation hin, weil sie – im Grunde grundlos – Kritikern und Populisten ein Argument an die Hand gebe, das Fundament, auf dem die Bundesrepublik Deutschland errichtet wurde, als scheindemokratisch zu diskreditieren.
Terézia Mora hat sich die umstrittensten Themenfelder ausgesucht: die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie den Großkomplex Elternrecht mit den (Erb-)Rechten unehelicher Kinder, von denen es nach dem Krieg besonders viele gab. Die Autorin verbeugt sich – in Gestalt ihrer fiktiven Sprecherinnen Echo und Lot – tief vor der Frauenrechtlerin Elisabeth Selbert (SPD), einer von überhaupt nur vier weiblichen Abgeordneten. Selbert setzte mittels einer Öffentlichkeitskampagne die für alle Rechtsgebiete verbindliche Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ anstelle der unkonkreteren Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz durch. Dabei war auch Helene Weber (CDU) behilflich, die sich von Selbert überzeugen ließ. Die Männer, vor allem aus der CDU, hatten indes eine kleinlaute Ausrede parat, die bekannt vorkommt: Die Gleichberechtigung sei doch längst derart „in Fleisch und Blut übergegangen“, dass man eine Debatte gar nicht erwartet habe.
Die Ergebnisse der Bonner Beratungen sind bekannt, nicht zuletzt, weil das vor siebzig Jahren beschlossene Grundgesetz trotz der vielen Dutzend Änderungen und Einfügungen in seinem Kern die Zeiten überdauert hat. Durch die hier präsentierte Mischung aus Aufführung und Aufbereitung lässt sich das Zustandekommen dieses majestätischen Verfassungsdokuments jedoch in ganz unerwarteter Frische und Unmittelbarkeit neu erleben. Mehr als einmal wünscht man sich unweigerlich, heutige Politiker, die so routiniert Parteiprogramme herunterspulen, wären derart debattierfähig, individualistisch und durchweg interessiert an der Sache.
Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz, Ausstrahlung von heute an täglich in Doppelfolgen auf WDR3 um 19.04 Uhr; in je vier Folgen am 23./24. Mai auf Bayern 2 (20.05 Uhr/21.05 Uhr) und komplett im Deutschlandfunk am 23. Mai von 00.05 Uhr an. Auch als Podcast erhältlich.