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Exil während der Wendezeit : Der Eiserne Vorhang riss, und ich bekam einen Hund

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Im politischen Umbruch geht es auch den Symbolen an den Kragen: 1991 wurde die Lenin-Statue in Tallinn abgebaut. Bild: action press

Die Auslands-Esten galten immer als Gefahrenfaktor für die Sowjetunion: Über eine Kindheit im Exil während der Wendezeit – und den langen Weg zurück nach Hause.

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          Im Februar 1989 stand ich im Gang des schönsten Moskauer Kaufhauses, dem legendären GUM, in der Hand eine Plastiktüte mit Rubeln. Noch kurze Zeit vorher war ein Fünf-Rubel-Schein eine Menge Geld gewesen. Jetzt hatte ich eine ganze Tüte voller großer Scheine, aber man konnte damit nichts anfangen. Ich fand einen weißen Spitzenhut mit Krempe und Lenin-Köpfe. Ansonsten waren die Regale leer und die Gänge seltsam geräumig. Das GUM, erbaut in den 1890er Jahren, war früher bekannt gewesen als das Einkaufsparadies der Sowjetunion, in dem der Mangel an Waren nicht sichtbar war. Dort hatte meine Mutter in jungen Jahren ihre modischsten Schuhe gekauft.

          Im November desselben Jahres fiel in Berlin die Mauer, und davon wurde auch in den Fernsehnachrichten Sowjet-Estlands berichtet – das erlaubte Michail Gorbatschows Politik der Offenheit, die Glasnost. Auch der Eiserne Vorhang Estlands hatte Risse bekommen. Im Jahr zuvor hatte der Oberste Sowjet der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik eine Erklärung über die Souveränität Estlands angenommen. Das war ein Schritt vorwärts. Dennoch wurde die Proklamation als Wunsch der Perestroika-Kommunisten gesehen, das Land lediglich auf neue Art an die Sowjetunion zu binden, als suchte man eine akzeptablere Art, in der Sowjetunion zu bleiben, wie der estnische Mehrzweckmann im Bereich Kultur, Enn Soosaar, sich erinnerte. Es ging nicht darum, sich endgültig von ihr zu lösen. In der Proklamation war die Rede nur von der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

          Ich erinnere mich, dass ich der Sache kaum Beachtung schenkte. Stattdessen geschah einige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer etwas Bemerkenswertes. Etwas, bei dem der Wandel mit Händen greifbar wurde. Meine Großmutter hatte mit der Hand eine estnische Flagge genäht und sie zu Johanni 1989 in Sowjet-Estland an eine Wand in ihrer Wohnung gehängt. Wir machten ein Foto mit unserer Westkamera, alle kämpften mit den Tränen. Auf diesem Familienporträt in klaren Farben halten wir zwischen uns die Fahne. Meiner Cousine, die als Näherin arbeitete, war es gelungen, die Stoffe zu besorgen, sie waren Mangelware. Noch kurze Zeit vorher war die blau-schwarz-weiße Farbenkombination der Fahne gefährlich gewesen. Der estnische Künstler Leonard Lapin war in Acht und Bann geraten, nachdem er in seinen abstrakten Werken diese Farben verwendet hatte, die das Volk elektrisierten. Damals sah ich die estnische Flagge zum ersten Mal mit eigenen Augen.

          Abgelehnte Anträge

          Die Metamorphose, die zur Wiedererlangung der Selbstständigkeit führte, hatte schon früher, in den Jahren der Perestroika, begonnen. Damals wurden die Anträge auf Papiere, die meiner estnischen Mutter und mir das Reisen von Finnland aus zu unseren Verwandten nach Estland ermöglicht hätten, ein ums andere Mal abschlägig beschieden. Drei Jahre lang bekamen wir keine Genehmigung, unsere Verwandten in Estland zu besuchen. Stattdessen war die Einladung unserer Freunde, sie in Tallinn zu besuchen, von Erfolg gekrönt. Heimlich fuhren wir dann von Tallinn zu den Verwandten aufs Land, und so ging auch die Reise vonstatten, bei der das Foto mit der Fahne entstand. Weil wir die öffentlichen Verkehrsmittel mieden und es kaum Privatautos gab, machten wir diese heimlichen Fahrten mit dem Taxi und bezahlten sie mit Finnmark. In jenen Jahren wurde der Alltag außer mit Westgeld auch mit Alkohol, einer gängigen Valuta, zum Funktionieren gebracht. Die Hefe war aus den Geschäften verschwunden, nachdem die als „Gorbatschows trockenes Gesetz“ bekannte Rationierung des Alkohols in Kraft getreten war.

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