Kinder- und Jugendpsychiatrie : Eine explosive Mischung
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Für zwanzig Prozent der Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) gibt es in Amerika bald eine neue Diagnose: DMDD. Die Betroffenen sind reizbar und unglücklich zugleich.
Von Kinder- und Jugendpsychiatern werden sie schon lange als eine eigene Gruppe wahrgenommen - und zwar als eine, die jede Menge Probleme macht: Extrem reizbare Kinder, die aggressiv sind, zu Wutausbrüchen neigen, daneben aber tieftraurig sein können, Selbstzweifel hegen, sich immer wieder betrübt zurückziehen. „Egal, mit welchem Kollegen man spricht, die Antwort ist immer: Ja ich kenne diese Kinder“, sagt Martin Holtmann, der Ärztliche Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe in Hamm. Holtmann ist einer der rar gesäten Wissenschaftler in Europa, die sich mit dem Phänomen „affektive Dysregulation“ beschäftigen - das ist der Begriff, den die deutsche Fachwelt für diese extrem schwierigen Kinder gefunden hat. Eine offizielle Diagnose für das Störungsbild gibt es noch nicht. Wenn er Vorträge vor Kinder- und Jugendpsychiatern halte, sagt Holtmann, spiegelten allerdings deren Reaktionen, dass die Gruppe schon lange bekannt sei. „Die Symptomatik dieser Kinder ist ein wirklich relevantes Problem im Alltag“, sagt Holtmann. „Unsere Kliniken sind voll mit ihnen.“
Meist werden die Kinder, die von der „affektiven Dysregulation“ betroffen sind, mit der Diagnose ADHS belegt, dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom. Um kenntlich zu machen, dass es sich um ein „kompliziertes ADHS“ handelt, sprechen die Mediziner dann intern von „ADHS plus“. Holtmann schätzt, dass zwanzig Prozent aller ADHS-Patienten eigentlich der Gruppe „Dysregulation“ zuzuordnen sind. Unter allen Kindern seien ein bis zwei Prozent betroffen, ebenso viele Mädchen wie Jungs. Bisweilen werde für sie auch „Störung des Sozialverhaltens“ als Diagnose gewählt, womit man den als oppositionell wahrgenommenen Wutausbrüchen und Aggressionen Rechnung tragen will. Doch keine Diagnose, da sind sich die Ärzte einig, trifft richtig ins Schwarze.
Kann schon ein Kind manisch-depressiv sein?
In Amerika ist man schon weiter. Die Neufassung des amerikanischen Klassifikationssystems für psychische Erkrankungen, das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, fünfte Version) wird, wenn sie im Mai 2013 erscheint, aller Voraussicht nach eine neue Diagnose enthalten, die eigens für diese Gruppe von Kindern geschaffen wurde. Sie lautet DMDD: Disruptive Mood Dysregulation Disorder, und sie wird sich auf Kinder beziehen, die jünger als zehn Jahre sind, wenn die Symptome beginnen. Die Entscheidung, betroffenen Kindern eine neue, eigene Diagnose zuzugestehen, bekam kräftigen Rückenwind durch eine Debatte, die Amerikas Kinder- und Jugendpsychiater seit den neunziger Jahren entzweit. Es geht dabei um den Trend, bei Kindern bereits ab dem Kleinkindalter eine bipolare Störung zu diagnostizieren - jene schwere psychische Krankheit, die früher unter dem Begriff manisch-depressive Erkrankung firmierte: Die Patienten zeigen einen Wechsel zwischen depressiven, antriebsarmen Phasen und manischen Episoden mit gehobener Stimmung samt Größenideen, Rededrang und vermindertem Schlafbedürfnis. Man war immer davon ausgegangen, dass die Symptome erst zwischen dem fünfzehnten und dreißigsten Lebensjahr ausbrechen. Doch in Amerika erhielt bald bis zu einem Fünftel aller Kinder, die bei Psychiatern vorgestellt wurden, die Diagnose „bipolar“; in Deutschland beispielsweise sind es weniger als ein Prozent dieser „klinischen Population“.
Schon früh kam Kritik an dem Trend auf, der maßgeblich von Forschern um den Harvard-Professor Joseph Biederman gestaltet wurde, einen ADHS-Experten. Doch erst Ellen Leibenluft vom National Institute of Mental Health brachte neue Bewegung in die Diskussion. Sie postulierte 2003 in einem Paper, dass es einen Typ von Manie gibt, bei dem die reizbare Stimmung nicht in klar abgrenzbaren Episoden auftritt, sondern ständig vorhanden ist. Leibenluft fand dafür den Begriff „Severe Mood Dysregulation“. Später wurde daraus „DMDD“.