Zukunft des Sex : Das Zerrbild der Pädophilie
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„Es geschah am hellichten Tag“ mit Gerd Fröbe als Kindermörder. Bild: INTERFOTO
Wegschließen und zwar für immer? Das ist keine Lösung, wenn es um Männer geht, die nicht Täter werden wollen.
Ein Hinterhof auf dem Campus der Charité, mitten in Berlin. Hier ist seit zehn Jahren das Forschungsprojekt „Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs im Dunkelfeld“ angesiedelt. Es trägt auch einen anderen, deutlicheren Titel: „Kein Täter werden“. Seit zehn Jahren können Männer hier therapeutische Hilfe bekommen: Wenn sie sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, das aber nicht in die Tat umsetzen wollen.
Es sind fast ausschließlich Männer. Ein Jahr lang dauert die Gruppentherapie. Einmal pro Woche treffen sie sich dann mit anderen Männern, die wie sie pädophil sind, aber ihre Neigung kontrollieren wollen. Gemeinsam gehen sie Fragen nach: Wie kann ich mich selbst regulieren? Was brauche ich, um diese Selbstregulierung auszubauen? Die Männer lesen, zum Beispiel, Briefe realer Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs. Es geht um Empathie, das ist ein wichtiges Element. Es geht auch darum, die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu verstehen. Und zu akzeptieren, dass es für manche dieser Bedürfnisse keinen Ersatz geben kann. Die Betroffenen sollen lernen, mit ihrer Präferenzstörung zu leben, ohne damit Kindern zu schaden - und sich zugleich nicht mehr schämen für das, was sie sind. Denn nur wenn sie ihre Präferenz akzeptieren, können sie darüber auch Kontrolle und Verantwortung ausüben.
„Wenn die Betroffenen ihre Gruppe kennenlernen“, erzählt die Therapeutin Dorit Grundmann, „merken sie: ,Ich bin nicht allein. Es gibt andere, denen es genauso geht, und das sind keine Monster, genauso wenig wie ich.‘ Denn durch diese Brillen sehen sich die Teilnehmer ja selbst, wenn sie zu uns kommen.“
Dorit Grundmann ist Psychologin und arbeitet seit drei Jahren im Forschungsprojekt. Für jede Gruppe sind zwei Therapeuten zuständig, meist ein Arzt und ein Psychologe. Acht Therapeuten sind es derzeit insgesamt. Sie stehen unter Schweigepflicht. Wer herkommt und Hilfe sucht, dem wird Anonymität gewährt.
Opferschutz durch Vorbeugung
Die Therapeuten bieten dabei auch jenen Pädophilen ihre Hilfe an, die schon übergriffig geworden, aber nicht - oder noch nicht - polizeibekannt sind. Das ist das „Dunkelfeld“. Wer dagegen in einem laufenden Strafverfahren steckt, wird abgewiesen. Die Betroffenen sollen aus freien Stücken in die Therapie kommen. Problembewusstsein ist entscheidend.
„Wir zwingen niemanden“, sagt Dorit Grundmann. „Die Betroffenen haben ein Anliegen an uns und nicht den äußeren Druck, etwas ändern zu müssen oder eine Strafe zu umgehen. Das macht es uns möglich, erst mal den Menschen zu sehen und nicht nur die Taten.“
Das Ziel der Therapie ist eindeutig definiert: Opferschutz. Durch Vorbeugung. Sowohl der körperliche Übergriff als auch der Konsum von Bildern und Filmen, die sexuellen Kindesmissbrauch zeigen, soll verhindert werden. Der Weg dahin ist: Verhaltenskontrolle, und zwar ein Leben lang. Denn Pädophilie - von der Weltgesundheitsorganisation als Störung mit Krankheitswert klassifiziert - gilt als unveränderbar, als unheilbar.
Pädophilie steht nicht im Strafgesetzbuch. Sexueller Kindesmissbrauch sehr wohl. Der Unterschied zwischen Fantasien und Taten ist entscheidend, auch im gesellschaftlichen Umgang mit Pädophilie. Sexueller Kindesmissbrauch ist eine Tat. Sich Bilder von sexuellem Kindesmissbrauch anzuschauen ist eine Tat. Solche Bilder herzustellen und zu verbreiten ist eine Tat. Was aber in den Fantasien eines Pädophilen geschieht, der solche Bilder nicht benutzt, ist keine Tat.
Ein Garantie für den Therapieerfolg gibt es nicht
Das Therapie-Projekt ist über die Jahre zu einem Präventions-Netzwerk geworden, mit Anlaufstellen in Kiel, Regensburg, Leipzig, Hannover, Hamburg, Stralsund, Gießen, Düsseldorf und Ulm. Im Mai kam zuletzt Mainz dazu. In Berlin wird inzwischen auch mit pädophilen Jugendlichen gearbeitet.
Seit der Gründung 2005 haben sich bis Ende vergangenen Jahres 2094 Interessenten in Berlin gemeldet. Mit 894 von ihnen führten die Therapeuten ein Erstgespräch, um herauszufinden, ob sie überhaupt pädophil sind. Denn ungefähr sechzig Prozent der sexuellen Übergriffe auf Kinder werden von Menschen begangen, die nicht pädophil sind, es sind Ersatzhandlungen, die auf andere Persönlichkeitsstörungen zurückgehen können. 440 Interessenten hat man anschließend eine Therapie angeboten. 236 von ihnen lehnten ab - vor allem deswegen, heißt es, weil Berlin anfangs der einzige Standort im Land und der Anfahrtsweg zu lang war. Zu sechs Personen gab es keinen Kontakt mehr, 59 brachen die Therapie ab. 104 haben sie abgeschlossen.
Aber was heißt das - eine Therapie abschließen, wenn es um lebenslange Verhaltenskontrolle geht? Was hat ein Teilnehmer gelernt, der seine Gruppe erfolgreich verlässt? „Dem würde ich zutrauen, dass er sich selbst besser einschätzen kann“, sagt die Therapeutin Dorit Grundmann. „Dass er seine Bedürfnisse kennt und besser wahrnimmt, auch seine sexuellen Bedürfnisse. Dass er differenzieren kann, wo es für ihn problematisch wird, und dann weiß, wie er sich zu verhalten hat. Dass er also die Verantwortung für seine Neigung übernimmt.“ Eine Garantie dafür gibt es aber nicht. Weswegen die Männer auch nach der Therapie noch begleitet werden.
Den Männern wird eine „Ampel“ mit auf den Weg gegeben, ein Leitfaden, der ihnen hilft, ihr Verhalten einzustufen. Was ist erlaubt, was ein Risiko, was ist strengstens verboten? Darf ich dem Nachbarssohn über den Kopf streicheln, wenn dessen Eltern dabei sind? Grün. Darf ich allein mit ihm ins Kino gehen? Gelb. Schmusen, Küssen, Po anfassen: Rot! Gerade bei der Arbeit mit pädophilen Jugendlichen hat sich dieses plakative Modell als hilfreich erwiesen.
Ein Prozent der Bevölkerung ist betroffen
Die Ursachen der Pädophilie sind noch nicht gefunden. „Wir gehen von einem komplexen Modell aus, in dem biologische Prädispositionen eine Rolle spielen, aber auch psychosoziale Einflüsse, die sich in sensiblen Phasen der Gehirnentwicklung Geltung verschaffen“, sagt Klaus Michael Beier, Leiter der Sexualwissenschaft an der Charité. „Aber wir haben klinisch hundertfach die Erfahrung gemacht, dass es Menschen gibt, die sich wünschen, anders zu sein - dieser Wunsch aber durch keine Maßnahme der Welt zu verwirklichen ist.“
Darin sind sich Sexualforscher einig: Pädophilie ist eine Variante der menschlichen Sexualität, eine Präferenzstörung, die man sich nicht aussucht, die man auch nicht wegwünschen kann. Etwa ein Prozent der Bevölkerung soll betroffen sein. Man findet Pädophile in allen Schichten und Berufen, Konzernchefs, Lehrer, Straßenkehrer. Man muss aber nicht lange im Internet googeln, um Seiten zu finden, auf denen Beier und seine Kollegen beschimpft werden. Weil sie mit potentiellen Tätern arbeiten, statt sich um die Opfer zu kümmern. Weil sie „Pädos verstehen“. Autos mit dem Aufkleber „Todesstrafe für Kinderschänder“ sieht man auf allen deutschen Straßen.
„Es existiert die Vorstellung, dass durch Willenskraft auch die sexuelle Präferenz verändert werden kann“, sagt Beier. „Das steht aber nicht im Einklang mit dem, was wir über sexuelle Präferenz und Erregungsabläufe wissen. Und wir können das in der ganzen Bandbreite an Hunderten von Fällen darlegen. Es ist deshalb unsere ärztliche Pflicht, der Öffentlichkeit zu erklären, dass man nicht für etwas verurteilt werden darf, das man sich nicht ausgesucht hat.“
Die Folgen der sozialen Stigmatisierung von Pädophilen, auch das hätten zehn Jahre Forschung gezeigt, seien fatal: „Dadurch erhöht sich die Gefahr, dass sich jemand Bilder von kinderpornographischem Missbrauch besorgt, einfach weil er vereinsamt, weil er niemanden hat, dem er sich anvertrauen kann“, sagtBeier. Eine aktuelle Studie der Technischen Universität Dresden und der Universität Bonn, an der 104 Männer mit sexuellem Interesse an Kindern teilgenommen haben, kommt zu dem Ergebnis, „dass Stigma gegenüber Personen mit sexuellem Interesse an Kindern zu einer Verschlechterung im emotionalen und sozialen Bereich beiträgt, vor allem was das körperliche und psychische Wohlbefinden betrifft“. Die Forscher sind davon überzeugt, dass diese Verschlechterungen das Risiko sexueller Straftaten an Kindern erhöhen.
Es geht auch um die Aufklärung der Gesellschaft
Die befragten Männer überschätzten sogar den Grad ihrer Stigmatisierung in der Gesellschaft. 63 Prozent von ihnen glaubten, die Mehrheit der Deutschen stimme der Ansicht zu, „dass nicht straffällige Menschen mit sexuellem Interesse an Kindern besser tot seien“. In einer repräsentativen Umfrage, die zum Vergleich herangezogen wurde, lag die tatsächliche Quote der Gnadenlosen dagegen nur bei vierzehn Prozent.
„Wenn mir gesellschaftlich ein Konformitätsbild vorgehalten wird, dem ich nicht entspreche, und dies dann noch moralisch glasiert wird, habe ich kaum eine Chance, mit mir auszukommen“, sagt der Sexualpsychologe Christoph Joseph Ahlers. „Dann schäme ich mich vor mir selbst, hasse mich selbst, lehne diese nonkonformen Anteile meiner Persönlichkeit ab. Und jetzt wird’s gefährlich: Was ich an mir selbst ablehne, dafür kann ich keine Verantwortung übernehmen und folglich darüber auch keine Verhaltenskontrolle mehr ausüben.“
Ahlers gehört zum Gründungsteam des Präventionsprojekts an der Charité, inzwischen leitet er eine Praxis für Paarberatung und Sexualtherapie in Berlin. Im vorigen Jahr war er zu Gast in der Talkshow von Günther Jauch, als es dort um den Fall des SPD-Politikers Edathy ging. Bald erscheint sein neues Buch über die kommunikativen Funktionen der Sexualität („Himmel auf Erden und Hölle im Kopf“, Goldmann). Immer schon, sagt Ahlers, sei es beim Berliner Projekt auch um die Aufklärung der Öffentlichkeit gegangen: darüber, dass man ein medizinisches Problem nicht moralisch angehen kann. „Wir stehen eben nicht hilflos mit überbordenden Strafimpulsen vor diesem Problem“, sagt Ahlers. „Es gibt eine wissenschaftlich fundierte und klinisch evidenzbasierte Umgangsweise.“
Betreuung für Pädophile soll ausgebaut werden
„Als wir systematisch angefangen haben“, erzählt Ahlers, „die Unterscheidung zwischen innerem Erleben und geäußertem Verhalten aufzuzeigen, also den Unterschied zwischen Pädophilie und sexuellem Kindesmissbrauch, da war das für die Leute ein Affront. Sie können sich nicht vorstellen, wie unsere ersten Gespräche verliefen, als wir an die Landesregierung und die Bundesregierung herantraten und erklärten: Wir sehen in der Sexualmedizinischen Hochschulambulanz der Charité Patienten, die keine Straftaten begangen haben, aber unter ihrer Präferenz leiden. Sie befürchten, Taten zu begehen, und bitten um Hilfe - aber wir können sie nicht behandeln, weil es keine Therapieplätze dafür gibt.“
Die Reaktion, so Ahlers, bestand in schlichter Ignoranz: Diese Menschen, von denen Sie da reden, existieren gar nicht. Kinderschänder sind Personen, die Kinder schänden und nicht erwischt werden wollen. Und wenn sie erwischt werden, müssen sie ins Gefängnis oder in den Maßregelvollzug. „Und warum wurde das behauptet? Weil es so gut wie keine ambulanten sexualwissenschaftlichen Facheinrichtungen gibt, in die Pädophile ohne Furcht vor einem Stigma hingehen können, um Hilfe zu bekommen.“ Es waren die Jahre, in denen Bundeskanzler Schröder vollmundig verkündete, für Männer, die sich an Kindern vergehen, könne es nur eine Lösung geben: „Wegschließen - und zwar für immer“. Erst auf Vermittlung der Stiftung „Hänsel und Gretel“ - bis heute der einzige Opferschutzverein, der das Präventionsprojekt aktiv unterstützt - habe die Volkswagenstiftung dann eine Anschubfinanzierung gewährt.
Gefördert wird die Berliner Einrichtung seit 2008 vom Bundesministerium für Justiz, mit mehr als einer halben Million Euro jährlich. Die Finanzierung läuft 2016 aus. Es gibt ein aktuelles Positionspapier der Gesundheitspolitiker von CDU und CSU im Bundestag, das sich dafür ausspricht, die Betreuung für Pädophile nach dem Vorbild des Präventionsprojekts noch weiter auszubauen, und zwar mit zwanzig Anlaufstellen in der gesamten Republik, mindestens einer pro Bundesland. Dafür müssten fünf bis acht Millionen Euro im Jahr aufgewendet werden. Und daran müssten sich dann auch die gesetzlichen Krankenkassen und die privaten Versicherer beteiligen. Das sei bei einer krankhaften Störung „eindeutig ihre Aufgabe“, heißt es in dem Papier. Da aber eine anonyme Behandlung im bestehenden Abrechungssystem nicht vorgesehen sei, müsse eine alternative Finanzierungsmöglichkeit geschaffen werden - ein Topf, in den die Kassen gemäß der Zahl ihrer Mitglieder einzahlen würden, und auch die privaten Versicherer, freiwillig in angemessener Höhe.
Problematische Schweigepflicht
Nach zehn Jahren Therapie und Forschung (und intensiver Medienresonanz) scheint das Präventionsprojekt also in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Aber es gibt auch deutliche Kritik. Der Psychologe Thomas Schlingmann, einer der Gründer der Opferinitative „Tauwetter“, hat kürzlich in der Zeitschrift Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zentrale Prämissen des Projekts wie den Krankheitsbefund und die Unheilbarkeit kritisiert und dessen Effektivität grundsätzlich in Frage gestellt. „Die Zahlen über den Ausgang der Therapie lassen massive Zweifel am Erfolg derselben aufkommen“, schreibt Schlingmann. Er rügt unter anderem die mangelnde Kontrolle der Rückfallquoten. Vor allem die Schweigepflicht hält Schlingmann für hochproblematisch.
Die Therapeuten haben angekündigt, auf Schlingmanns Aufsatz ausführlich zu antworten. Ihnen ist durchaus bewusst, wie umstritten die Schweigepflicht ist. Andererseits garantiere sie, dass sich Betroffene überhaupt melden. Was aber, wenn sich während der Therapie zeigt, dass einer der Männer übergriffig zu werden droht? „Dann versuchen wir, mit ihm gleichberechtigt Absprachen zu treffen, um ihn in die Verantwortung zu nehmen, damit er selbst präventiv handeln kann“, sagt die Therapeutin Dorit Grundmann. Zum Risikomanagement des Projekts gehört es, Angehörige einzubeziehen. Das potentielle Opfer vom potentiellen Täter zu trennen. Den potentiellen Täter stationär aufzunehmen. Und nötigenfalls Medikamente einzusetzen, um sexuellen Druck zu reduzieren.
Gibt es Patienten, bei denen die Therapeuten ein sehr ungutes Gefühl haben, wenn sie das Projekt nach fünfzig Sitzungen verlassen? „Ja, bestimmt“, antwortet Dorit Grundmann. „Aber das würden wir dann auch mit dem Patienten besprechen. Unser Anspruch ist, ihm auf Augenhöhe zu begegnen.“
Ehemalige Patienten des Projekts betreiben inzwischen die Website „Schicksal und Herausforderung“, auf der sie ihr Leben mit der Pädophilie und der Verhaltenskontrolle dokumentieren. Ein „Ehrenkodex“ ist dort eingestellt, mit zehn Punkten: „Achtung vor der Würde des Kindes“ ist der erste, „Achtung vor mir selbst“ der zweite, und es endet mit einer Selbstverpflichtung: „Wo immer ich kann, werde ich dazu beitragen, das Klischee vom gefährlichen Triebtäter abzubauen und den Leuten zu zeigen, dass nicht jeder pädophil empfindende Mensch zum Missbrauchstäter wird.“
Könnte es ein Beitrag zu dieser angestrebten Entstigmatisierung sein, wenn die Solidargemeinschaft die Kosten der Therapie übernimmt? Klaus Michael Beier stimmt zu: „Es wäre absolut hilfreich“, sagt der Leiter des Präventionsprojekts, „wenn die Betroffenen merken, dass ihre Anstrengungen sich auch deswegen lohnen, weil sie gesellschaftlich honoriert werden.“