Fotoband von Christopher Sims : In den Wäldern Louisianas wird der Ernstfall geprobt
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Bitte nicht aus der Rolle fallen: Diese Frauen treten als Obstverkäuferinnen auf und verkörpern ihre Figuren auch zwischen den militärischen Übungen. Bild: Christopher Sims/Kehrer
Zonen zwischen Imagination und Realität: Christopher Sims fotografiert fiktive afghanische und irakische Dörfer auf amerikanischen Truppenübungsplätzen.
Amerikanische Soldaten sollten die schlimmsten Kriegserfahrungen schon in der Heimat machen. Das wappne sie gegen den Horror, der auf ausländischen Schlachtfeldern zu erwarten sei. So formuliert es ein Bewohner Mosalahs. Die kleine Gemeinde hat eine aus Sperrholz zusammengezimmerte Moschee, auf ihren Wegen tummeln sich Maultiere, ein Gettoblaster spielt arabische Popmusik. Leute, die am Basar entlangschlendern, hüllen sich in Gewänder, wie man sie aus Vorderasien kennt. Darunter tragen sie Jeans und Tennisschuhe. Etwas abseits befestigen zwei Männer in Tarnanzügen eine mit Kunstblut befleckte Gummiprothese am Arm eines Bewohners. Sie soll den Anschein erwecken, eine Sprengfalle habe ihn verstümmelt, denn hier in den Wäldern von Louisiana wird der Ernstfall geprobt. Mosalah? Ein Potemkin’sches Dorf. Seine Einwohner? Rollenspieler. Die Zielgruppe? Einheiten der Militärbasis Fort Riley in Kansas, die bald zum Irak-Einsatz aufbrechen.
Der Historiker Christopher Sims hat rund fünfzehn Jahre lang künstlich angelegte Siedlungen nach afghanischem oder irakischem Vorbild auf Truppenübungsplätzen in den Vereinigten Staaten fotografiert und die besten Bilder für den Band „The Pretend Villages“ zusammengestellt. Ergänzt werden sie durch einen atmosphärisch glänzenden, zuerst 2006 erschienenen Essay des Autors Wells Tower. Die Dörfer bilden Zonen zwischen Fiktion und Realität, schließlich treffen dort echte Soldaten auf bezahlte Darsteller, die häufig aus dem Nahen Osten eingewandert sind und nun frei erfundene Versionen jenes Lebens aufführen, das sie eigentlich hinter sich gelassen haben. Den meisten Amerikanern sind diese Nicht-Orte in North Carolina, Louisiana und Kalifornien unbekannt. Wer in der Umgebung der Stützpunkte lebt, ist dagegen bestens im Bilde, denn Anwohner werden häufig als Statisten rekrutiert.
Sims hat die Dörfer entweder mit einer vom Militär ausgestellten Zugangsberechtigung oder als Mitwirkender besucht. So verkörperte er etwa einen Kriegsfotografen, der erlebt, wie antiamerikanische Unruhen ausbrechen oder Aufständische eine Bombe in einem Krankenwagen deponieren. Mit seinen Bildern möchte er Kritik an „traditioneller Kriegsfotografie“ üben, die sich oft um Gewaltillustrationen drehe. Sobald Sims selbst die inszenierten Greuel vom Übungsgelände einfängt, wirken sie profan und unwirklich. Da ist zum Beispiel ein freundlich in die Kamera blickender Darsteller, dem ein Stück Plastikdarm aus der Bauchdecke quillt. Ein Kärtchen informiert über seinen Zustand: „You can talk. You cannot walk. Injury involves bladder“.
Chlorfässer und Sandsäcke, Stofftiere und Statisten, Autokarosserien und Stacheldraht: Sims konzentriert sich auf Staffage und Kulissen; die Motive seiner Aufnahmen erinnern an die heruntergekommenen Sets von B-Movies. Damit wirft er laufend die Frage auf, ob das Einüben von Krieg tatsächlich auf echte Kampfhandlungen vorbereiten kann. Was hat ein Rollenspiel, so ernst es von den Teilnehmern auch genommen wird, mit einem Konflikt zu tun, bei dem es Tote gibt? Die schlimmsten Kriegserfahrungen machen amerikanische Soldaten gewiss nicht in der Heimat.
Christopher Sims: „The Pretend Villages“. Inside the U.S. Military Training Grounds. Englische Texte von Christopher Sims und Wells Tower. Kehrer Verlag, Heidelberg 2021. 120 S., Abb., geb., 35,– €.