Zukunft des THW Kiel : Heute schon an morgen denken
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Lebensversicherung zwischen den Pfosten: Niklas Landin Bild: dpa
Schwachstellen beseitigt, Stammspieler genesen, neue Stars in Sicht: Beim THW Kiel wächst vor dem Rückspiel im europäischen Handball-„Clásico“ die Zuversicht. Der deutsche Riese plant frühzeitig die Zukunft.
Eine Dreiviertelstunde nach Spielschluss steht Niklas Landin noch mit schwarzer Torwartkleidung da, in der Hand einen Stift: Autogramme schreiben, Bilder machen, ein bisschen Small Talk mit den Fans. Der Handballspieler erfüllt diesbezüglich viele Erwartungen. Stargehabe ist Landin fremd. In seinem eigentlichen Job hat der bald 34 Jahre alte Däne das Bestmögliche getan, um gegen Titelträger FC Barcelona einen Punkt in der Champions League zu erkämpfen. Beim 30:30 am vergangenen Donnerstag war Landin wieder einmal die Lebensversicherung des THW Kiel – an diesem Mittwoch folgt Teil zwei des europäischen Handball-„Clásico“ (20.45 Uhr live auf DAZN).
Im Gespräch denkt Landin einen Schritt weiter: „Es sieht nach etwas Licht am Ende des Tunnels aus.“ Er meint die Verletzten-Situation. Beim deutschen Rekordmeister schien sich die Lage schon zu entspannen, ehe Eric Johansson (Handbruch) und am Montag auch noch Steffen Weinhold (Kreuzbandriss) ausfielen. Mit seiner Zuversicht bezog sich Landin auf die ebenfalls lange fehlenden Säulen Sander Sagosen und Hendrik Pekeler. Nach Knöchelbruch und Achillessehnen-Riss aus der Vorsaison kehrten beide vergangene Woche aufs Parkett zurück. Auch bei den Außenpositionen musste Trainer Filip Jicha wegen fehlender Stammspieler improvisieren.
Diese Ausfälle hat Kiel mit selten schönem, meistens erfolgreichem Handball übertüncht: „Unsere jungen Leute haben gut eingeschlagen“, lobt Landin, „wir haben das mit ihnen gut hinbekommen.“ Neben Johansson meint er Nikola Bilyk, der mit 25 Jahren endlich die für ihn vorgesehene Hauptrolle einnimmt.
Kein Fall von falscher Belastungs-Steuerung
Vier Minuspunkte im Tagesgeschäft, das Pokal-Achtelfinale erreicht – nur in der Champions League hat sich der THW Ausrutscher gestattet. Die Hoffnung der nationalen Konkurrenz ist zerstoben, dass Kiel ohne Sagosen und Pekeler so viele Niederlagen kassieren und aus dem Rennen um die Schale sein würde. Dabei waren die Malaisen vor allem Unfälle in Training oder Spiel, Zusammenstöße meist, wie sie zum Handball gehören. Im Ergebnis schmerzhaft, aber immerhin kein Hinweis auf schlechte Belastungs-Steuerung, da es sich nicht um muskuläre Schäden handelt.
Zugute kommt den Kielern mit ihrem 13,5-Millionen-Euro-Etat nicht nur eine ligaweit einzigartige finanzielle Kraft, sondern auch ein gutes Händchen bei den Sommer-Verpflichtungen. Bis zu seinem Handbruch spielte Johansson, 22, überragend, beim Sieg in Magdeburg trat er beeindruckend auf. Handball sieht bei ihm so leicht aus: Hochsteigen, reinschmeißen. Jicha und Sportchef Viktor Szilagyi sehen in Johansson einen wegweisenden Transfer. Gegenwärtig sucht sein ebenfalls neuer schwedischer Rückraum-Kollege Karl Wallinius (23) noch die Bindung zum Spiel, das Gefühl für den Wurf. Doch Johansson und Wallinius sind wichtige Bausteine der dringenden Verjüngung.
Da der THW dank seines Namens, der Halle und der Gehälter auch gestandene Kräfte holen kann, sind alte Schwachstellen beseitigt. Tomas Mrkva kam vom Bergischen HC und ist ein guter zweiter Torwart. Petter Överby aus Erlangen half, solange Pekeler fehlte und wird am Kreis vorn und hinten gebraucht, wenn Patrick Wiencek Pausen benötigt. Eine Zeitenwende erleben die Kieler jedoch bei der Einstellung junger, begehrter Spieler.
Sehnsucht nach der Heimat
Parallel zum Lebensgefühl Gleichaltriger finden auch Handballprofis, dass da mehr im Leben sein sollte als der Beruf. Die work-life-balance muss stimmen. Es stellt alle Klubs vor Herausforderungen, wenn alte Werte wie Identifikation mit dem Verein oder der Alltag als Profi weniger zählen und individueller ausgelebt werden. „Wir müssen uns wie jedes andere Unternehmen umstellen. Insgesamt sind die Ansprüche schon wahnsinnig gestiegen“, sagte Szilagyi den „Kieler Nachrichten“.
Hinzugekommen ist die Sehnsucht nach der Heimat: Manche skandinavische Spieler haben ihre Lieben in der Pandemie schmerzlich vermisst und die Trennung etwa von den Großeltern oder Enkelkindern als erheblichen Nachteil empfunden. Auch deshalb kehren einige von ihnen demnächst in ihre Heimatländer zurück – und das ist kein reines Kieler Phänomen. Entscheidend wird dabei sein, wie der THW den Abgang Niklas Landins im nächsten Sommer nach Aalborg verkraftet. Für ihn kommt zunächst auf ein Jahr befristet der französische Nationaltorwart Vincent Gérard. Ab der Serie 2024/25 hält sich hartnäckig der Name des Flensburger Benjamin Buric.
Doch wer mit Landin spricht, versteht, dass das nun wirklich allerfernste Zukunft ist: „Frag’ mich bitte nicht nach der Rückrunde“, sagt er, „wir haben bis Silvester so viele Spiele, ich habe keine Ahnung, was noch alles passiert. Ich weiß nur, dass wir sie alle gewinnen wollen.“ Für den THW Kiel geht es genau darum: Diesen, von Landin, Duvnjak, Wiencek und Co. verkörperten Ehrgeiz aus dem Hier und Jetzt auf die neue Generation zu übertragen.