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Rausch auf Rezept : Wie wirksam ist Cannabis als Medizin wirklich?

  • -Aktualisiert am

Nun auch in der Medizin gefragt: Hanfpflanze im mazedonischen Skopje Bild: Getty

Der Umsatz mit medizinischem Cannabis steigt. Doch die Droge wirkt nicht so gut, wie viele hoffen. Patienten wissen oft nicht, wie sie das Medikament einnehmen müssen – das kann zu Nebenwirkungen führen.

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          Wer Cannabis für eine Modeerscheinung hält, irrt. Schon in der Antike haben Ärzte mit Hanf behandelt, wie das lateinische Cannabis auf Deutsch heißt. Im elften Jahrhundert brachten Kreuzritter die Hanfpflanzen nach Europa. Und sie fanden rasch Verbreitung in der Medizin. Ende des 19. Jahrhunderts war Cannabis als Arznei breit etabliert. Ärzte verschrieben sie gegen Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen, Psychosen oder, um die sexuelle Lust zu steigern. Doch 1929 verbot der deutsche Reichstag Cannabis. Erst jetzt erlebt die Droge eine medizinische Renaissance. Das Gesetz zur „Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ aus dem März 2017 macht es möglich.

          Seitdem wächst der Markt stetig. Bis zum Jahresende 2017 verordneten Ärzte nach Angaben des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) den gesetzlich Versicherten rund 56.000 Mal medizinisches Cannabis. Das brachte einen Umsatz von 19 Millionen Euro. 2018 waren es 118.000 Verordnungen mit einem Umsatz von 48 Millionen Euro. Es gibt verschiedene Präparate mit Cannabis: erstens fertige Arzneimittel, etwa als Mundspray oder Kapseln. Zweitens von der Apotheke auf Rezept hergestellte, ebenfalls als Kapseln oder als Tropfen. Und drittens in Form von Blüten. Diese enthalten neben den bekannten Wirksubstanzen THC und CBD zahlreiche andere, deren Wirkung nicht geklärt ist.

          Die Apotheken freuen sich über das lukrative Geschäft. Zwei von drei Mitarbeitern sehen darin einen „echten Zukunftsmarkt“, so eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Aposcope. „Es werden große Erwartungen an die medizinische Nutzung von Cannabis geknüpft“, sagt Eva Hoch, Psychologin und Leiterin der Forschungsgruppe Cannabinoide an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. „Schwerkranke Menschen hoffen, für sich endlich das richtige Medikament gefunden zu haben.“

          Keine Hilfe für die Psyche

          Doch die Euphorie widerspricht den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Besonders groß ist die Wissenslücke bei psychischen Erkrankungen, wie gerade eine große Studie vom australischen Drogen- und Alkoholforschungszentrum in Sydney zeigt. Für den Zeitraum von 1980 bis 2018 fanden die Forscher lediglich 83 Studien. Untersucht wurde Cannabis gegen Depressionen, Angstzustände, posttraumatische Belastungsstörungen, ADHS, Psychosen und das angeborene Tourette-Syndrom. Die Forscher kommen zum ernüchternden Schluss: Wenn überhaupt, ist die Wirkung von Cannabis gering. Dafür bekam statistisch gesehen von sieben Patienten einer eine Nebenwirkung.

          Auch bei anderen Krankheiten ist die Datenlage dünn. Mit am besten erforscht ist Cannabis gegen chronische Schmerzen. Winfried Häuser, Internist und Schmerzmediziner am Klinikum Saarbrücken, hat vergangenes Jahr gemeinsam mit Kollegen aus Deutschland und Kanada die Literatur dazu durchforstet. Ihr Fazit: Für Rheumaschmerzen gibt es nicht genügend Belege, ob Cannabis mehr wirkt als ein Placebo. Krebsschmerzen, die auf Opioide nicht ausreichend ansprechen, kann Cannabis nicht besser lindern. Ob es Menschen mit multipler Sklerose und schmerzhaften Muskelkrämpfen oder denen mit chronischen Nervenschmerzen hilft, ist unklar. Viele der Studien sind klein. Manche Studien, die keinen Vorteil von Cannabis zeigen, werden nicht veröffentlicht. So fanden Häuser und seine Kollegen drei derartige Studien, die ein Hersteller eines Cannabis-Sprays bezahlt hatte, aber die noch nicht vollständig publiziert worden waren.

          Jeder Dritte hat Cannabis mal probiert

          Patienten mit HIV/Aids nahmen in einzelnen Studien etwas Gewicht zu, sie hatten mehr Appetit, und ihnen war weniger übel. Für Patienten mit Magen-Darm-Beschwerden, neurodegenerativen Krankheiten wie Parkinson, Autoimmun- oder Augenerkrankungen gibt es erst einzelne gute Studien von kurzer Dauer. Gegen Morbus Crohn, Reizdarm, Chorea Huntington, Parkinson, unwillkürliche Muskelzuckungen sowie Zittern und Blasenschwäche im Rahmen einer multiplen Sklerose half Cannabis nicht wirklich. Manche Betroffene berichten, dass sich einzelne Beschwerden oder ihre Lebensqualität besserten.

          Oft geht unter, dass Cannabis eine Reihe von Nebenwirkungen verursachen kann. Am häufigsten wird über Schwindel, Benommenheitsgefühl, Schläfrigkeit, Einschränkungen in der Aufmerksamkeit, Übelkeit und Erbrechen berichtet. Mitunter kann sich auch die Stimmungslage verschlechtern. „Die Nebenwirkungen sind in der Regel vorübergehend und stellen keine ernsthaften Komplikationen dar“, sagt Psychologin Hoch. „Aber sie können als unangenehm empfunden werden und zu Therapieabbrüchen führen.“

          Auf der ganzen Welt beliebt: Cannabis-Anbau in Montevideo, Uruguay
          Auf der ganzen Welt beliebt: Cannabis-Anbau in Montevideo, Uruguay : Bild: Reuters

          In der Cannabispflanze stecken mehr als 100 Cannabinoide, die körpereigene Signalsysteme unseres Nervensystems beeinflussen können. Die Substanzen wirken im Hirn und im Körper über spezielle Bindungsstellen, die Cannabinoid-Rezeptoren. 1964 identifizierte ein Forscher aus Jerusalem Tetrahydrocannabinol (THC) als wesentliche psychoaktive Substanz. Der Gehalt an THC bestimmt, wie stark ein Cannabisprodukt wirkt. Marihuana hat beispielsweise weniger THC, Haschisch mehr, und in Blüten schwankt der Gehalt je nach Sorte. THC steigert die Stimmung, man nimmt Geräusche oder das, was man sieht, anders wahr, die Muskeln werden entspannt, Schmerzen gelindert und der Appetit angeregt. 1976 wurde noch ein weiteres wichtiges Cannabinoid gefunden, Cannabidiol (CBD). Das wirkt vermutlich weniger auf die Psyche, sondern eher krampflösend, antientzündlich und angstlösend.

          Cannabis ist die in Deutschland mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Droge. Jeder dritte Erwachsene und jeder zehnte Jugendliche hat irgendwann in seinem Leben schon mal Cannabis probiert. Eine Befragung unter Frankfurter Schülern von 2018 ergab: Fast vier von zehn der 15 bis 18 Jahre alten Schüler hatten mindestens einmal Cannabis in ihrem Leben konsumiert. 0,6 Prozent der Cannabis-Konsumenten wenden die Droge missbräuchlich an oder sind abhängig – das sind rund 309.000 Personen in Deutschland. Der Konsum ist nicht verboten. Laut Betäubungsmittelgesetz sind in Deutschland jedoch Anbau, Besitz und Handel von Cannabis und Cannabisprodukten strafbar. Wer Cannabis lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, herstellt oder erwirbt, kann auf Straffreiheit hoffen.

          Patienten haben falsche Hoffnungen

          Dass die Substanzen angstlösende und entspannende Wirkungen haben können, heißt jedoch noch lange nicht, dass sie auch gegen Krankheiten helfen können. Dies lässt sich nur mit Studien belegen. Das neue Gesetz sei ein Dammbruch gewesen, sagt Häuser. „Eine Arznei wird zugelassen, ohne dass dazu die üblichen strengen Studien durchgeführt werden mussten. Bei einer solch unzureichenden Datenlage hätte die Behörde die Zulassung bei jedem anderen Medikament abgelehnt.“ Die Ärzte hätten wenig Erfahrung mit der Verordnung.

          Winfried Häuser, Eva Hoch und sechs weitere Ärzte und Psychologen sehen die Entwicklungen seit Verabschiedung des Gesetzes mit großer Sorge und haben deshalb im Namen von zehn medizinischen Fachgesellschaften kürzlich in einer Fachzeitschrift einen Appell geschrieben für einen verantwortungsvollen Umgang mit medizinischem Cannabis. Berichte darüber seien oft unkritisch und zum Teil falsch, sagt Häuser. „Der Nutzen wird an eindrucksvollen Patientenbeispielen dargestellt, aber es wird nicht berichtet, wie oft die Therapie nicht hilft oder dass Nebenwirkungen auftreten können.“ Bei den Patienten hätte die einseitige Berichterstattung Hoffnung geweckt, dass jetzt endlich ein wirksames und sicheres, weil „natürliches“ Medikament zur Verfügung stünde. Als Folge seien Patienten in die Arztpraxen gestürmt und hätten die Verschreibung von Cannabis gefordert, selbst wenn sie gar nicht so schwer krank waren oder wenn ihre Erkrankung hätte anders behandelt werden können.

          Anders als bei normal zugelassenen Medikamenten gibt es bei medizinischem Cannabis keine Angabe der Krankheiten, gegen die es eingesetzt werden kann. „Dosierung, Anwendungsart und -dauer, Kontraindikationen oder Nebenwirkungen – es gibt keinen Beipackzettel“, sagt Häuser. Studien zu Langzeitwirkungen liegen nur wenige vor, und es ist noch unklar, wie groß das Abhängigkeitspotential ist. Völlig unzureichend sei vor allem die Datenlage zu Cannabisblüten. „Wir wissen überhaupt nicht, welche Blüten mit welchem Verhältnis von THC zu CBD in welchen Dosierungen bei welchen Erkrankungen sinnvoll sind und wie diese anzuwenden sind“, sagt er.

          So ist zum Beispiel der THC-Gehalt von Blütenart zu Blütenart unterschiedlich, und je nachdem, wie stark man inhaliert, kann man eine enorm hohe Dosis abbekommen. Doch die Blüten erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Im Jahr 2018 verordneten Ärzte sie 70.700 Mal. Das bescherte den Blütenherstellern einen Umsatz von 33 Millionen Euro. Die Fertigarzneien wurden indes nur 47.400 Mal verordnet und brachten der Branche nur 15 Millionen Euro Umsatz.

          Häuser, Hoch und ihre Kollegen appellieren, dass Ärzte umsichtig und in erster Linie Cannabis-Fertigarzneimittel verschreiben sollen. Immerhin sieht das Gesetz vor, dass die Anwendung von Cannabis in einer Begleitstudie untersucht werden soll. Eine erste Auswertung zeigt, dass medizinisches Cannabis in sieben von zehn Fällen gegen chronische Schmerzen verschrieben wurde. Vielleicht hätten Gesundheitspolitiker lieber die Versorgung von Menschen mit chronischen Schmerzen in Deutschland verbessern sollen, statt eine Arznei zuzulassen, deren Wirksamkeit nicht ausreichend belegt ist.

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