Wie erkläre ich’s meinem Kind? : Warum sich Eishockeyspieler prügeln dürfen
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Im Eishockey nichts Besonderes: Spieler vom ERC Ingolstadt und von den Kölner Haien prügeln sich Ende März 2019 im Stadion von Ingolstadt. Bild: Picture Alliance
Dass sich Menschen aufregen, ist Teil des Sports. Schiedsrichter sollen dafür sorgen, dass es dabei nicht zu Handgreiflichkeiten kommt. Doch für eine Sportart machen sie eine Ausnahme.
Wer zum ersten Mal ein Eishockeyspiel besucht, hat im Anschluss oft zwei Fragen. Eine davon: Wie schafft man es, den kleinen, schwarzen Puck, der mit irrer Geschwindigkeit übers Eis geschossen wird, über die gesamten sechzig Minuten Spielzeit nicht aus den Augen zu verlieren? Das ist leicht zu beantworten: Mit ein bisschen Übung und dem richtigen Gespür für die jeweilige Spielsituation wird es im Lauf der Zeit einfacher. Weil die Abläufe sich ähneln und man irgendwann ungefähr verstanden hat, wie das Spiel funktioniert und wo der Puck meistens hingespielt wird.
Die zweite Frage allerdings, die gern gestellt wird, ist nicht so leicht zu beantworten: Warum prügeln sich Eishockeyspieler öfter mal während des Spiels? Und warum wird das von den Schiedsrichtern und den Verantwortlichen, die den Spielbetrieb in den Ligen organisieren, nicht verhindert und verboten? Schließlich darf man sich, abgesehen vom Kampfsport, in keiner anderen Sportart prügeln, ohne dafür hart bestraft zu werden. Und ist das nicht gefährlich für die Gesundheit der Spieler?
In der Deutschen Eishockey Liga steht an diesem Wochenende der erste Spieltag der neuen Saison an. In den Regeln gibt es extra welche für die Faustkämpfe, bei denen sich Spieler oft ohne Handschuhe ins Gesicht schlagen. Wer bei einer Prügelei mitmacht, muss für ein paar Minuten vom Eis. Das Spiel geht so lange ohne die beteiligten Spieler weiter. Wenn die Schlägerei gar nicht mehr aufhört, müssen die Spieler für den Rest des Spiels in die Kabine und sind für das nächste Spiel gesperrt. Wer häufiger bei Schlägereien mitmacht, für den werden die Strafen härter. Insgesamt aber sind sie für die kommende Spielzeit verändert – und sogar etwas weniger streng gemacht – worden.
Sie ähneln nun denen in der nordamerikanischen Profiliga NHL, wo sich die Spieler noch viel öfter prügeln als hier in Deutschland. Es lässt sich also zunächst einmal festhalten: Was beim Fußball, Handball, Basketball oder Tennis lange Sperren nach sich ziehen würde, scheint beim Eishockey keine große Sache zu sein.
Liegt das daran, dass es auf dem Eis generell etwas ruppiger zugeht als bei anderen Sportarten? Viele Aktionen, die beim Eishockey erlaubt sind, wären in anderen Sportarten ein Foul. Man darf zum Beispiel den Gegner in die Bande drücken oder mit einem sogenannten Bodycheck umfahren, wenn man dabei von vorne oder von der Seite kommt. Die körperliche Härte gehört seit den Anfängen im 19. Jahrhundert zum Spiel. Genau wie die Schlägereien. Warum das so ist, lässt sich nicht mehr genau klären. Es kann gut sein, dass es anfangs einfach zu wenige feste Regeln gab, als das Spiel in Kanada zunehmend unter ärmeren Leuten populärer wurde – vor allem bei Soldaten, bei denen die Hemmschwelle für das Ausüben von Gewalt damals wohl niedriger war als heute. Eine andere Erklärung wäre, dass die Prügeleien aufkamen, um andere Spieler zur Rechenschaft zu ziehen, wenn diese ein Foul begangenen hatten, das von den Schiedsrichtern nicht geahndet wurde.
Ein Spezialist fürs Prügeln
Auch heute schlagen sich die Spieler meist dann, wenn es zuvor ein Foulspiel gab, oder wenn das andere Team den Torhüter bedrängt, nachdem der einen Schuss gehalten hat. Wiederum ein anderer Erklärungsansatz geht davon aus, dass die vielen Prügeleien mit der Einführung der blauen Linien auf dem Spielfeld zusammenhängen. Sie teilen das Eis in drei Drittel und sind wichtig für die Abseitsregelung. Seit ihrer Einführung halten sich viel mehr Spieler in der Mitte der Eisfläche auf, um nicht ins Abseits zu laufen. Das führt zu mehr Zweikämpfen und somit zu mehr Auseinandersetzungen zwischen den Spielern und schließlich auch zu mehr Schlägereien. Vermutlich ist es eine Mischung aus allen drei Ideen, mit der sich erklären lässt, warum Schlägereien beim Eishockey zum Teil des Spiels geworden sind. Man kann sie übrigens nicht nur ausschließlich im Männer-Eishockey beobachten. Auch bei den Frauen kommen diese Kämpfe vor.
Mit der Zeit führte die Häufung dieser körperlichen Auseinandersetzungen dazu, dass es in den unterschiedlichen Teams einen Spielertypen für genau diese Szenen gab, den es heute immer seltener gibt: den Enforcer, was aus dem Englischen übersetzt so viel heißt wie „Abräumer“ oder „Vollstrecker“. Seine Aufgabe ist es vor allem, die Spieler der gegnerischen Mannschaft nach gemeinen Fouls zur Rechenschaft zu ziehen. Und die eigenen Spieler zu schützen, wenn sie wiederum vom Gegner attackiert werden. Die Kämpfe haben aber noch eine weitere wichtige Funktion. Sie sind ein taktisches Mittel und dienen zum Beispiel als Weckruf für die eigene Mannschaft, wenn die in Rückstand liegt oder die eigenen Fans angestachelt werden sollen. Früher waren Enforcer oft nur für die körperlichen Auseinandersetzungen in den Teams zuständig. Heute müssen sie mehr leisten, weil das Spiel taktischer, schneller und komplexer geworden und für Typen, die nur prügeln können, kein Platz mehr ist.
Bleibende Schäden
Obwohl es den reinen Enforcer inzwischen kaum noch gibt, sind die Kämpfe nicht aus dem Eishockey verschwunden. Und das ist auch gut so, sagen manche. Sie glauben nämlich, dass die Prügeleien im Eishockeysport die Spieler zu einem gewissen Maß schützen. Die haben nämlich mit den scharfen Stahlkufen ihrer Schlittschuhe, ihrem Stock, der hohen Geschwindigkeit und der Härte, die erlaubt ist, die Möglichkeit, einen Gegenspieler zu jeder Zeit schwer zu verletzen, wenn sie denn wollen. Durch kleine Fiesheiten und versteckte Fouls, die die Schiedsrichter oftmals gar nicht sehen können, staut sich bei vielen manchmal Wut auf im Spiel, die sich dann in den Prügeleien entlädt. Besser dort, als in einem unsportlichen Foulspiel, das schlimme Folgen haben kann, sagen die Befürworter der Kämpfe.
Doch das ist längst nicht der einzige Grund, warum die Ligen in Europa und die in Nordamerika weiterhin so nachsichtig bei diesem Thema sind. Viele der Zuschauer wollen genau die Prügeleien sehen. Die Kämpfe sind beliebt. Kommt es zu einer Schlägerei, wird es meist laut im Stadion. Passende Musik wird eingespielt, und plötzlich kommt man sich vor wie auf einem Volksfest. Wer die Kämpfe verbietet, macht sich bei vielen Fans unbeliebt. Und wahrscheinlich machen sich die Verantwortlichen auch Sorgen, dass vielleicht weniger Zuschauer kommen, wenn sie die körperlichen Auseinandersetzungen nicht mehr dulden.
Kritiker der Kämpfe monieren, dass bleibende Schäden die Folge sein können. Es gibt sogar Spieler, die durch im Kampf erlittene Verletzungen gestorben sind, wie der damals 21 Jahre alte Amateurspieler Don Sanderson. Sein Helm, den viele Spieler vor einem Kampf auch ausziehen, war ihm runtergefallen. Anschließend schlug er mit seinem Kopf auf der Eisfläche auf und starb nach mehreren Tagen im Koma. Es gibt wissenschaftliche Studien, die nahelegen, dass Eishockeyspieler ein erhöhtes Risiko für Hirnschäden haben. Viele nach ihrem Tod untersuchte Spieler wiesen eine Erkrankung des Gehirns auf, die es häufiger bei Menschen gibt, die viele Schläge auf den Kopf bekommen haben. Sie wird oft auch Boxer-Syndrom genannt. Bei den Betroffenen kann es zu Stimmungsschwankungen kommen, aber auch der Verlust des Gedächtnisses und ein erhöhtes Suchtpotenzial sind ihre Folgen. Geändert hat sich bisher trotzdem nichts. Gekämpft wird weiterhin. In Nordamerika. Und in Europa. Bei den Männern. Und bei den Frauen.
Eine illustrierte Auswahl von Beiträgen unserer Kolumne „Wie erkläre ich’s meinem Kind?“ ist bei Reclam erschienen.
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