Wohin das heiße Wasser lockt
Zischende Geysire, zuckende Vulkane, leere Landstriche: Island will mit spektakulärer Bad-Architektur in wilder Natur, Spitzengastronomie und verbesserter Infrastruktur die Sehnsüchte Reisender nach der Corona-Krise erfüllen.
29. Juli 2021
Text: CELINA PLAG
Fotos: SIGGA ELLA
Für einen Moment herrscht am Geysir Strokkur im Geothermalfeld Haukadalur, eineinhalb Stunden südlich von Reykjavík, totale Ruhe. Feine Dampfschwaden tanzen über der heißen Wasserstelle, dann beginnt das Wasser leicht zu brodeln, zieht sich zusammen, buckelt sich auf und erstrahlt für wenige Sekunden in einem wundersamen Blau irgendwo zwischen Azur und Türkis – bevor der Geysir als gigantische heiße Fontäne in die Höhe schießt. Das tosende Rauschen der bis zu 20 Meter hohen Wassersäule, die in der Luft zu einer dichten Wolke kondensiert, klingt ein bisschen so wie eine Rakete beim Start. Diese unbändige Gewalt der Natur zeigt der Strokkur etwa alle zehn Minuten.
Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“
Jetzt abonnierenIsland ist ein Land der Extreme. Der Inselstaat mit den immer hellen Sommertagen und ewig dunklen Winternächten ist eine der aktivsten Vulkanregionen der Welt; mit Gletschern, Schnee, Wasserfällen und Seen ist er auch die Insel der Eis- und Wassermassen. Beides, Hitze und Wasser, entfalten eine enorme geothermale Energie, die sich in den berühmten Geysiren und heißen Quellen entlädt. Die Erde scheint hier lebendiger und launischer als anderswo auf der Welt zu sein.
„Tatsächlich ist es vor allem auch die geothermale Energie, die das Leben auf der Insel bestimmt“, sagt Hrólfur Karl Cela – schon deshalb, weil aus ihr Strom und Wärme für die abgeschiedene, wenig fruchtbare Insel erzeugt wird. Cela ist in Reykjavík neben Marcos Zotes und Gründerin Sigríður Sigþórsdóttir Partner des Architekturbüros Basalt, das Islands vulkanisches Gestein im Namen trägt. Sie sind mit dem Gestalten moderner Geothermalbäder bekannt geworden. Etwa mit dem Guðlaug in Akranes: einer dreistöckigen, aufgefächerten Poolanlage mit Blick aufs Meer. Oder mit „The Retreat at Blue Lagoon“, einer Hotel- und Spa-Anlage, angeschlossen an den berühmten Geothermalsee Blaue Lagune.
Island, wo es selbst in den eisigen Wintern natürlich warmes Wasser gibt, hat eine ausgeprägte Schwimm- und Badekultur entwickelt. Neben den heißen Quellen gibt es rund 170 öffentliche Bäder für 369 000 Isländer im am dünnsten besiedelten Land Europas. Zum Vergleich: Im Berliner Bezirk Neukölln mit rund 330 000 Einwohnern sind es gerade einmal vier. Hot Pots, besonders warme Becken um 40 Grad Celsius, findet man hier überall: als öffentliche Einrichtungen, bei Privathäusern oder als natürliche Badestelle inmitten der Natur. Befestigte Bäder existierten bereits im Mittelalter, einige sind bis heute erhalten. In der Vergangenheit hatten die Pools laut Cela stärker als heute auch eine soziale Funktion für die verstreuten Gemeinschaften. Man traf sich, um sich dort über Politik und den neuesten Klatsch auszutauschen – und ließ mit dem Ablegen der Kleider und Statussymbole auch Hierarchien verschwinden: „Im Wasser sind alle Menschen gleich.“
Sigþórsdóttir sagt: „In den alten Sagen heißt es, der Kriegsgott Thor hätte, bevor er in den Kampf zog, ein heißes Entspannungsbad genommen.“ Heute kämpfen die Menschen vor allem gegen Stress, Islands Bäder passen zum wachsenden Bedürfnis nach Spa- und Wellnessurlauben – insbesondere da dem Wasser, das oft reich ist an natürlichen Mineralsalzen, Kieselerde oder Algen, eine heilende Wirkung zugeschrieben wird. Es wird in Beauty-Produkte gemischt und bei der Therapie von Hautkrankheiten angewendet. Die Beratungsfirma McKinsey hat den globalen Wellnessmarkt kürzlich auf rund 1,5 Billionen US-Dollar geschätzt, mit einem jährlichen Wachstumspotential von fünf bis zehn Prozent. Die Covid-19-Krise unterbricht die Entwicklung, aber die Analysten gehen grundsätzlich von einem weiterhin steigenden Interesse am Thema Wellness aus.
Auch Bjarnheiður Hallsdóttir, Vorstandsvorsitzende des isländischen Reiseverbands und Geschäftsführerin eines Reise-und Event-Unternehmens, sieht in Sachen Wellness- und Badekultur „noch Luft nach oben“: „Früher kamen primär Aktivurlauber auf die Insel, mittlerweile ist die Zielgruppe breiter.“ Insbesondere das Luxussegment sei noch ausbaufähig. Insofern baut Basalt auch an Islands touristischer Zukunft.
Das von dem Architekturbüro entworfene, 2018 fertiggestellte und mehrfach preisgekrönte „The Retreat at Blue Lagoon" – Islands erstes und bislang einziges Fünf-Sterne-Hotel mit Edelrestaurant und einer Wellnessanlage mit Dampfgrotten und Anwendungssuiten drei Meter unter der Erde – ist insofern ein Vorzeigeprojekt. Die geschwungenen Flügel des Hotels, deren Wände sich mal um freigelegte Lavaformationen legen oder im geothermalen Wasser stehen, ergänzen die bisherigen Gebäude der Blauen Lagune. Der Thermalsee, den National Geographic in seine Liste der 25 Weltwunder aufgenommen hat, wird seit den 1990ern als Spa genutzt – den ersten Komplex entwarf Sigríður Sigþórsdóttir übrigens schon damals mit. Während die Suiten des The Retreat mit eigenen kleinen Pools daherkommen, steht die Hauptanlage für alle Besucher gegen ein entsprechendes Entgelt offen.
In dem warmen, milchig blauen Wasser, wo vom Boden her immer mal wärmere oder kältere Ströme an einem vorbeiziehen, wird das Baden eigentlich mehr zum Spektakel als zum entspannenden Ritual: Im gigantisch großen Pool in einem ziemlich pittoresken vulkanischen Becken schwebt über dem Wasser eine Bar, in der Cocktails ausgeschenkt werden; in einem Spa-Häuschen können sich die Badegäste Schönheitsmasken auflegen lassen. Beizeiten plantschen Trauben jauchzender Besucher mit weiß verschmierten Gesichtern an einem vorbei.
Die Blaue Lagune ist eine Massenattraktion. 2017 kamen rund 1,3 Millionen Besucher. In den 1970ern entstand die Lagune eher durch Zufall: Das nahe gelegene Geothermalkraftwerk Svartsengi pumpte dorthin überschüssiges – sauberes – Wasser, das sich nicht zur Energieerzeugung nutzen ließ. Gleichzeitig strömt fortwährend etwas Meerwasser auf das Lavafeld, so dass sich das Gemisch aus Süß-und Salzwasser konstant erneuert. Die Doppelnutzung des Geothermalwassers für Islands Strom- und Fernwärmenetz und als Spa-Becken ist ein denkbar nachhaltiger Effekt.
Auch wegen ihrer Attraktivität für Besuchermassen ist die Nachfrage nach neuen, modernen Badanlagen groß. Und zwar nicht nur für die Wellness- oder Luxusklientel: Ein heißes Bad gehört für alle zum „authentischen“ Island-Erlebnis genauso dazu wie die beeindruckende Natur. Wer auf die vulkanisch besonders aktive Halbinsel Reykjanes reist, besucht nicht nur die Blaue Lagune, sondern will auch den Geysir Strokkur und das Geothermalgebiet von Krýsuvík sehen, wo brodelnde Schlammquellen mal rötlich, mal grün und gelb schimmern. Die Erde dort zischt und brummt und seufzt – ähnlich wie beim Vulkan Gunnuhver und dem dampfenden Hochtemperaturgebiet gleichen Namens. Es heißt übrigens, es sei der Geist von Gunna – einer Frau, die mit den Menschen der Umgebung so ihre Streiche spielte, bis der hiesige Pfarrer sie in die heiße Quelle verbannte -, der dort bis heute spukt.
In jüngster Zeit musste man sich Geothermalbäder und natürliche Sehenswürdigkeiten fast ausschließlich mit Geistern teilen. Schließlich sind auch in Island coronabedingt die Besucherzahlen eingebrochen. Der Tourismus hier hat in der vergangenen Dekade einen Paradigmenwechsel erlebt. Beliebt war Island zwar schon immer, meistens bei bestimmten Aktivurlaubern, darunter vielen Deutschen, die sich das teure Ziel leisten konnten. Erst die Finanzkrise 2008 und der damit verbundene Kursverfall der isländischen Króna machte einem breiteren Publikum eine Reise dorthin möglich. 2010 brach dann der Vulkan Eyjafjallajökull aus, dessen Aschewolke weltweit den Flugverkehr lahmlegte. „Auf einmal war Island weltweit in den Nachrichten. Das war eine globale, kostenlose Werbekampagne“, sagt Cela. Plötzlich war die Insel hottest travel destination. Die Zahl der Touristen wuchs von rund 460 000 im Jahr 2010 auf mehr als 2,3 Millionen 2018. Die Krise wurde so zur ökonomischen und kulturellen Chance. Viele Unternehmen wurden um die Zeit gegründet – Design, Mode oder Gastronomie. Auch Basalt ist letztendlich so entstanden.
„Man kann auf Island von einem Vorher und einem Nachher sprechen“, sagt Sigþórsdóttir, die mit ihrem eigenen Architekturbüro damals einen beruflichen Neuanfang wagte. Auch wegen ihrer Erfahrung mit der Blauen Lagune zog sie viele Folgeaufträge rund um Wellness und Hotellerie an Land.
Das gestiegene Interesse der Reisenden an spezifisch isländischer Kultur führte teilweise zu ihrer Wiederentdeckung oder Neuinterpretation, nicht nur im Badbereich. Besonders eindrücklich sieht man das in der Gastronomie. Wo man bis dato in den Restaurants eher das auf den Teller brachte, was die Isländer eben nicht traditionell zu Hause aßen, interessierten sich die neuen Touristen gerade für typische isländische Zutaten und Rezepte, allerdings zeitgenössisch interpretiert.
„Die Finanzkrise ist das Beste, was Islands Gastronomie passieren konnte“, sagt Thrainn Freyr Vigfússon, Besitzer und Küchenchef der Restaurants Sumac und Öx im Zentrum von Reykjavík – mit elf Plätzen Islands kleinstes Restaurant – mit Empfehlung im Guide Michelin. Traditionelle Zutaten wie Elch, Fisch, Beeren, Moos, wilde Kräuter und für die langen Winter eingelegtes Gemüse arrangiert er dort zu kunstvollen Gerichten, die den Geschmäckern und dem ästhetischen Anspruch einer internationalen Foodie-Szene standhalten.
Ähnlich wie zur letzten Krise sieht man auch jetzt wieder eine Chance für die Zukunft. „Der Tourismusboom passierte so schnell. Mit dem Aufbau einer Infrastruktur, die das auch abfedern kann, ist Island nicht zügig genug hinterhergekommen“, sagt Bjarnheiður Hallsdóttir. Höhere Beträge wurden zuletzt investiert, um die Infrastruktur auch in abgelegeneren Teilen der Insel zu verbessern – damit man die Besucher von Attraktionen wie der Blauen Lagune besser über das gesamte Land verteilen kann. Nach der Pandemie, wenn sich Reisende noch nicht wieder an Menschenmassen gewöhnt haben, dürfte gerade ein Land wie Island, wo der Fokus vor allem auf einer extremen Naturerfahrung liegt, als Urlaubsziel noch interessanter werden. Der Ausbau der Infrastruktur verfolgt dabei auch nachhaltige Ziele. In Island weiß man, dass man die Natur schützen muss, sie ist das Kapital des Landes.
Für Basalt ist es entscheidend, „so zu arbeiten, dass die Natur in alle Prozesse mit eingewebt wird“, sagt Sigþórsdóttir, deren Bauten immer eine genaue Analyse der jeweiligen ortsspezifischen Gegebenheiten und Bedürfnisse vorangeht. Ein gutes Beispiel dafür ist das 2018 eröffnete öffentliche und sogar kostenfreie Bad Guðlaug am Strand Langisandur in Akranes. Das dreistöckige Bad, das aus einer hoch gelegenen, eiförmigen Aussichtsplattform sowie zwei versetzt liegenden, ebenfalls ovalen Badebecken darunter besteht, fügt sich harmonisch in den Steinwall am Strand. Eine Treppe verbindet alle drei Etagen und führt gleichzeitig zum Meer. Vom Panoramadeck aus lässt sich der Ozean genauso beobachten wie die Badegäste der Pools darunter. Das obere Becken ist heißer, das untere etwas kühler – es bereitet Badende, die von dort ins Meer laufen wollen, auf die eisigen Temperaturen des Atlantiks vor.
„Mit dem Pool konnten wir die lokale Natur nicht nur integrieren, sondern auch aktivieren“, sagt Cela. Bislang hätte man den Strand primär zum Flanieren genutzt. Mit dem Bau des Bades sei die lokale Meerschwimm-Community gewachsen, weil sie sich vor und nach dem Schwimmen aufwärmen kann. Unter Touristen gilt das Bad noch als Geheimtipp. Warum das eigentlich verwunderlich ist, merkt man, sobald eine der meterhohen, wild peitschenden Wellen das Ufer erreicht – und sich laut klatschend auf das Bad und die darin sitzenden Menschen ergießt. Guðlaug ist nämlich so gebaut, dass man in ihm die Unberechenbarkeit des Meeres tatsächlich hautnah erleben kann – dabei aber in der wohlig wärmenden Sicherheit des Pools hockt. Eigentlich steht das auch sinnbildlich für das gesamte Land: In Island wird selbst Wellness zum Abenteuer.
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Quelle: Frankfurter Allgemeine Quarterly
Veröffentlicht: 29.07.2021 15:17 Uhr
