Wie die Nazis ein Kochbuch stahlen
Von LEONIE FEUERBACH14. November 2020 · Die Romane jüdischer Autoren wurden im NS-Regime verbrannt – Sachbücher aber bekamen teils „arische“ Verfasser. So auch das Kochbuch der Wienerin Alice Urbach. Ihre Enkelin hat nun einen Sieg errungen.
Im Sommer 1949, elf Jahre nach ihrer Flucht vor den Nazis, kehrte die jüdische Wienerin Alice Urbach erstmals in ihre Heimatstadt zurück. Sie streifte durch Wiens Gassen, stand weinend vor einem Haus, das einst eine Synagoge gewesen war, in der sie viele Jahre zuvor Hochzeiten gefeiert hatte, und kam irgendwann an einem Buchladen vorbei. Im Schaufenster lag ein Buch: „So kocht man in Wien!“ Es sprang ihr sofort ins Auge. Der Grund: Sie hatte das Buch verfasst. Doch auf dem Umschlag stand ein anderer Name: Rudolf Rösch. Wie konnte das sein?
Diese Frage stellte sich die Köchin bis zu ihrem Tod im Jahr 1983. Und noch heute fragt es sich ihre Enkelin Karina Urbach. Die Historikerin forscht in Princeton und lehrt in London, im Streit um das Vermögen der Hohenzollern förderte sie wichtige Quellen zutage. Nun hat sie die Geschichte ihrer Großmutter aufgeschrieben. Dafür durchforstete sie alte Tagebücher und Briefe, und in Archiven in Wien, London und Washington fand sie längst verloren geglaubte Schriften, Tonbänder und Filme. Aus den Recherchen ergibt sich das Bild einer Frau, die es ihr Leben lang nicht übers Herz brachte, über das Schicksal ihrer drei Schwestern zu sprechen, die im Getto von Lodz und im Konzentrationslager von Treblinka ermordet wurden, aber bis ins hohe Alter immer wieder ihr Kochbuch zurückforderte. „Dahinter steckte wohl die Hoffnung, wieder Kontrolle über ihr Leben zu erlangen“, sagt Karina Urbach, „als eine Art Wiedergutmachung.“ Alice Urbach war diese Kompensation Zeit ihres Lebens nicht gegönnt. Ihre Enkelin hat sie nun doch noch erreicht, fast 40 Jahre später.
Alice Urbach wurde 1886 in eine bürgerliche jüdische Familie geboren. Ihr Vater Sigmund Mayer bekämpfte als Lokalpolitiker und Kolumnist der „Neuen Freien Presse“ den im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmenden Antisemitismus. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Alice Ende 20. Als der Krieg vorbei war, hatte sie keinen Vater und keinen Ehemann mehr, aber zwei kleine Söhne. Zum Überleben besann sie sich auf das, was sie am besten konnte: kochen. In den zwanziger Jahren, als es wieder genug Nahrungsmittel gab und die Wiener Gesellschaft Geld hatte für abendliche Empfänge, erfand Alice Urbach „Bridge-Bissen“, Fingerfood fürs Bridgespielen. Sie leitete eine Kochschule, hielt Vorträge zu Themen wie „Die Schnellküche der berufstätigen Frau“ und gründete Österreichs ersten Lieferservice für warmes Essen. In der Wiener Gesellschaft war sie beliebt, sie verkehrte in denselben Kreisen wie Sigmund Freuds Tochter Anna. 1935 erschien „So kocht man in Wien!“, ein 500-Seiten-Buch mit Rezepten für Strudel und Knödel, das ein Bestseller wurde. In einer Rezension hieß es: „Alice Urbach, die sich des besten ,kulinarischen‘ Ruhmes und Rufes erfreut, hat jetzt ein bildschönes Kochbuch herausgegeben.“ Das Werk sei viel mehr als ein Kochbuch, so das Kulturmagazin „Die Bühne“: „Die Diätküche erfährt eingehende Behandlung, Resteverwendung wird gelehrt, praktische Winke für Küche und Haushalt gegeben.“
Im März 1938 marschierte die Wehrmacht in Österreich ein. Ein halbes Jahr lang lebte Alice Urbach in ständiger Angst, grundlos verhaftet oder deportiert zu werden. In ihren Aufzeichnungen steht über diese Zeit bloß: „Ich sollte mehr über die Monate in Wien während der Hitlerzeit schreiben, aber ich kann es einfach nicht. Es ist eine so schreckliche Erinnerung.“ Im Oktober 1938 gelang ihr die Ausreise nach England. Noch im selben Jahr stahl man ihr Buch. „So kocht man in Wien!“ bekam einen neuen Autor: Rudolf Rösch. Alice Urbach erfuhr das erst im Sommer 1949, bei ihrer Rückkehr nach Wien. Sie beschloss, den Verlag zur Rede zu stellen und reiste in die Schweiz. Doch Hermann Jungck, der Leiter des Ernst-Reinhardt-Verlags, ließ sie abblitzen: Sie habe ihr Honorar erhalten, und überhaupt stamme der Titel des Buchs nicht von ihr, sondern von seinem Onkel, dem Gründer und damaligen Leiter des Verlags. Ob Alice Urbach damals tatsächlich das versprochene Honorar von 1000 Reichsmark erhielt, lässt sich nicht rekonstruieren. Aus Briefen an ihre zwei Söhne geht aber hervor, dass sie sich schon kurz nach Erscheinen des Buchs in Geldnot befand. Und mit Erhalt eines Honorars erlischt natürlich nicht das Urheberrecht. Dass Verlage – und nicht Autoren – den Titel eines Buchs bestimmen, ist außerdem üblich.
Auch 25 Jahre nach seinem Zusammentreffen mit Alice Urbach zeigte Hermann Jungck keinerlei Reue. In einer Festschrift von 1974 erklärte er, nach dem „Anschluss“ Österreichs sei er „genötigt“ gewesen, einen „neuen Verfasser“ für das Kochbuch zu suchen, da das Buch mit einer jüdischen Autorin nicht mehr hätte vertrieben werden können. Er habe dann Rudolf Rösch gefunden, der das Kochbuch überarbeitet und modernisiert habe. Tatsächlich wurden die Gerichte größtenteils eins zu eins übernommen; „modernisiert“ wurde bloß das Vorwort. Denn das stammte eindeutig von einer Frau und betonte die Internationalität der Wiener Küche, die aus dem „bunten Volksgemisch der ehemaligen österreichungarischen Monarchie als einem reichen Reservoir schöpfen“ konnte–Formulierungen, die den Nazis zuwider waren. Das neue Vorwort hingegen endete mit den Worten: „Und so geht dieses Buch nun hinaus in alle deutschen Gaue … als ein Zeuge dafür, dass man in der zweitgrößten Stadt des Reiches auch [in der Kochkunst] Meisterhaftes leistet.“
Ist die Geschichte von Alice Urbach ein Einzelfall? Oder sahen sich zahlreiche Verleger in der NS-Zeit „genötigt“, für Werke jüdischer Autoren „arische“ Verfasser zu finden? Dafür spricht ein Verlagsprotokoll von 1939, auf das die Historikerin Angelika Königseder stieß, als sie die NS-Vergangenheit des Wissenschaftsverlags de Gruyter untersucht hat. Darin heißt es, bei „nicht-arischen Büchern“ sei zu prüfen, inwieweit eine „Neuauflage von Ariern herausgebracht werden kann“. Eine Zeitlang, so Königseder, seien Bücher jüdischer Autoren noch ins Ausland verkauft worden mit der Begründung, dass dies Devisen einbringe. „Spätestens bei einer Neuauflage war damit aber Schluss.“ Manche Bücher seien nicht neu aufgelegt oder tatsächlich neu geschrieben worden. Vor allem bei juristischen Kommentaren, so Königseder, sei abgesehen vom Vorwort und dem Ergänzen neuer Gesetze aber oft wenig verändert worden, bevor ein Werk mit „arischem“ Kommentator neu erschien. Ein so eindeutiger Plagiatsfall wie der von Alice Urbach sei ihr bei de Gruyter allerdings nicht untergekommen.
„Nur weil Verlage sich mit intellektuellen Dingen befassen, denken sie ja nicht weniger ans Wirtschaftliche als ein Autoreifenhersteller“, sagt Karina Urbach. „Insofern verstehe ich, dass Hermann Jungck sich 1938 anpassen musste und Alice als Autorin ersetzt hat.“ Keinerlei Verständnis hat sie für das, was danach geschah: „Dass Jungck sie nach 1945 nicht einfach wieder eingesetzt hat: Das ist für mich die größere Schuld.“ Als sie den Verlag anschrieb, hieß es, leider gebe es kein Archiv mehr zum Fall Alice Urbach. Karina Urbach hält das für unwahrscheinlich: „In der Festschrift von 1974 sind Quellen angegeben.“ Ob es Rudolf Rösch jemals gab, weiß sie bis heute nicht. Der Name sei früher verbreitet gewesen. In den Ausgaben von „So kocht man in Wien!“, die bis zum Ende der NS-Zeit erschienen, wurde Rösch als „langjähriger Küchenmeister in Wien und Mitarbeiter des Reichsnährstandes“ vorgestellt. Tatsächlich war kein Rudolf Rösch Mitarbeiter dieser NS-Agrar-Organisation. Und einen berühmten Wiener Koch dieses Namens gab es auch nie. Bis zum Erscheinen ihres Buchs vermutete Karina Urbach, Rösch sei eine Erfindung. Dann aber entdeckte sie zwei Radiosendungen für Hausfrauen von 1933 und 1935, in denen ein Rudolf Rösch über Soßen sprach. „Vielleicht hat der Verlag ihn doch nicht erfunden?“
Gut belegt ist hingegen das Leben ihrer Großmutter – dank zahlreicher Briefe und dank bescheidenen Ruhms als „älteste Kochlehrerin Amerikas“. Alice Urbach schlug sich in England zunächst als Hausangestellte und Köchin durch, leitete dann mit einer Freundin ein Heim für jüdische Flüchtlingskinder und folgte später ihrem Bruder Felix und ihrem Sohn Karl, die wie ihr Sohn Otto den Holocaust überlebt hatten, in die Vereinigten Staaten. In San Francisco arbeitete sie nochmals als Kochlehrerin. Journalisten interessierten sich für die über neunzigjährige Österreicherin, die das amerikanische Essen als „strange“ bezeichnete. In Zeitungsinterviews beklagte Alice Urbach den Verlust ihres „dritten Kindes“: „So kocht man in Wien!“ Doch der Verlag reagierte weder auf Interviews, noch auf Anfragen von Alice Urbachs Schwiegertochter und schwieg auch dann noch, als Alice Urbach im stolzen Alter von 95 Jahren mehrmals in der Fernsehsendung „Over Easy“ auftrat und von ihrem Leben und dem Verlust ihres Kochbuchs erzählte.
Karina Urbach war eine Jugendliche, als ihre Großmutter starb. „In diesem Alter befasst man sich nur mit der eigenen Welt“, sagt sie heute. „Ich habe verpasst, mit ihr über ihre Vergangenheit zu reden, und das ärgert mich.“ Im Zuge der Recherchen für ihr Buch hat sie das nun mehr als ausgeglichen.
Einen weiteren Grund zur Freude hat Karina Urbach dieser Tage, obwohl geplante Lesungen aus ihrem Buch wegen der Corona-Pandemie ausfallen müssen: Nach Jahrzehnten des Schweigens hat der Reinhardt-Verlag sich kurz nach Erscheinen ihres Buchs und eines Interviews im „Spiegel“ bei ihr gemeldet: Man wolle der Autorenschaft und dem Andenken ihrer Großmutter gerecht werden. Bereits eine Woche später wurden die Rechte an die einzigen Erben übertragen, Karina Urbach und ihre Kusine – eine späte Reaktion, die erst unter öffentlichem Druck erfolgte. Karina Urbach findet sie trotzdem „wunderbar“. Nun könne „So kocht man in Wien!“ noch einmal als Open-Access-E-Book veröffentlicht werden. „Das ist genau die richtige Lösung.“ Alles andere wäre wohl nicht im Sinne ihrer Großmutter gewesen: Alice Urbach sei nie verbittert gewesen, so ihre Enkelin. Sie sei trotz aller Härten mit einer positiven Einstellung durchs Leben gegangen, mit Witz und Wiener Charme.
„Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten“ ist im Ullstein-Verlag erschienen.
Quelle: F.A.Z. Magazin
Veröffentlicht: 14.11.2020 18:56 Uhr
