Druck das (H)aus!
Ein Traum wird wahr: Plötzlich entstehen weltweit wirklich Häuser aus dem 3-D-Drucker, auch in Deutschland. Diese Technik verspricht, effizienter, billiger und umweltschonender zu sein und Formen zu erlauben, die sonst zu teuer wären. Aber ist sie tatsächlich ein Allheilmittel für die Baubranche?
22. Juli 2021
Text: KATHARINA RUDOLPH
Wenn Leute auf dem Fahrrad die Straße mit den mitunter penibel gepflegten Vorgärten entlangfahren, halten sie öfter mal an und lugen über den Bauzaun. Da steht es, selbstbewusst im beschaulichen Beckum bei Bielefeld: das erste deutsche Haus aus dem Drucker.
Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“
Jetzt abonnierenGebaut wurde es von einem Riesen namens BOD2, einer Art Gerüst, das vor Ort in einem Tag zusammengesetzt wird, bis zu 15 Meter breit, zehn Meter hoch und beliebig lang sein kann. Ist das Silo mit der Druckertinte befüllt – einem ausgeklügelten Hightech-Beton der Firma HeidelbergCement –, kann es losgehen: Der Druckkopf wandert entlang einer Schiene auf drei Achsen, kann sich also nach links und rechts, hoch und runter sowie vor und zurück bewegen. So zieht er seine Bahnen, türmt zügig Wulst auf Wulst, wie Sahne aus einem Spritzbeutel, zwei Zentimeter hoch und sechs Zentimeter breit, bis er sämtliche Innen- wie Außenwände errichtet hat. Aussparungen für später zu verlegende Steckdosen oder Leitungen werden automatisch berücksichtigt, was im Nachhinein Arbeit spart. Während des Druckvorgangs wird innerhalb des Areals gewerkelt, um etwa Fensterstürze händisch zu platzieren, über die BOD2 in der nächsten Runde neue Wülste ablegt. Denn in die Luft zu drucken, vermag er nicht, vermag keiner seiner Art. Auf bis zu einen Meter pro Sekunde kann BOD2 beschleunigen. Er ist damit laut Hersteller der schnellste 3-D-Betondrucker am Markt.
Was genau ist eigentlich das Prinzip des 3-D-Drucks? Man kann es sich, vereinfacht gesagt, etwa so vorstellen: Um seinen über vier Meter großen David herzustellen, verbrachte Michelangelo rund drei Jahre damit, aus einem gewaltigen Marmorblock die berühmteste Statue der Kunstgeschichte herauszuschälen. Peu à peu hämmerte er Marmor heraus, bis nur noch der nackte Jüngling übrig blieb. Bei der additiven Fertigung, so der wenig verheißungsvoll klingende Fachbegriff für den 3-D-Druck, läuft es umgekehrt: Ein Objekt entsteht nicht durch sukzessives Abtragen, sondern durch sukzessives Auftragen von Material. Schicht für Schicht und sehr gezielt.
Die Kultur der Baubranche ist konservativ, vor allem aber ist Bauen individuell: Ein Haus muss an jeden Ort neu angepasst werden, es kann nicht flugs, wie ein Auto, in Serie gehen. Der 3-D-Druck verspricht da neue Möglichkeiten: Automatisierung und Individualisierung stünden nicht mehr im Widerspruch zueinander. Zudem könne flexibel, effizient, günstig und ressourcenschonend gebaut werden – was angesichts der Klimaprobleme und des weltweiten Bedarfs an preiswertem Wohnraum fast zu schön klingt, um wahr zu sein.
Hinkt Deutschland aber nicht gewaltig hinterher? Schließlich stehen in Russland, China oder Dubai längst Print-Häuser. Das amerikanische Unternehmen ICON hat den Drucker „Vulcan“ entworfen. Er druckt, wie könnte es anders sein, mit „Lavacrete“. ICON verkündet, „erschwinglichen, menschenwürdigen Wohnraum für alle“ schaffen zu wollen. Mit viel Trara wurden in Mexiko einige kleine Eigenheime für Bedürftige errichtet. In Kalifornien soll es von einer anderen Firma bald eine ganze gedruckte Siedlung geben, und selbst an Habitaten für Mond und Mars wird geforscht. „Wir hätten uns das Leben auch einfacher machen können“, erzählt Fabian Meyer-Brötz, Leiter der 3-D-Druck-Aktivitäten des weltweit führenden deutschen Schalungs- und Gerüstherstellers PERI. Das Familienunternehmen ist Teilhaber bei der dänischen Druckerfirma COBOD, vertreibt die Maschinen an Bauunternehmen und unterstützt deren Mitarbeiter in der Handhabung. Am Beckumer Projekt war PERI maßgeblich beteiligt. Es freue ihn, dass das Haus das erste gedruckte in Deutschland ist, sagt Meyer-Brötz. „Aber die Ersten zu sein war nicht unser Hauptziel. Sonst hätten wir längst auf unserem Parkplatz eine eingeschossige 40-Quadratmeter-Bude hingestellt, ein Banner darübergehängt und gesagt: Fertig!“ In Beckum aber ging es um mehr: vor Ort ein zweigeschossiges Haus zu drucken, das sämtliche Genehmigungsprozesse des strengen Baurechts durchlaufen hat. Das nicht nur eine Behausung ist, sondern ein echtes, stabiles, bewohnbares Zuhause, mit ordentlicher Dämmung, Statik, Elektrik und allem Drum und Dran. All das ist längst nicht bei allen Projekten weltweit der Fall.
Wie nachhaltig aber kann ein Haus sein, dessen Wände sich aus einem Material auftürmen, das als Dreckschleuder gilt und mancher am liebsten ganz aus unseren Städten verbannen würde? Als „Elefanten im Klimaraum“ bezeichnete kürzlich Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber die Bauwirtschaft. Sie ist für etwa vierzig Prozent des Abfallaufkommens in den Industrieländern verantwortlich. Auf das Errichten, Betreiben und Abreißen von Gebäuden wie Infrastrukturen entfallen fast vierzig Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Global werden jährlich über vier Milliarden Tonnen Zement produziert. Er ist der Kleber im Beton, der, mit Wasser vermischt, Sand und Kies zusammenhält. Bei seiner Herstellung entstehen fast acht Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen. Zum Vergleich: Auf den Flugverkehr entfallen etwa drei Prozent.
Runde, eckige oder kugelige Wände – dem Drucker ist es egal. Was früher die Kosten extrem nach oben schießen ließ, ist jetzt kein Problem mehr. Aber oft ist die Architektur noch recht konventionell.
Der immense Vorteil beim 3-D-Druck: Der Verbrauch an Material wird minimiert, weil es nur dort landet, wo es wirklich gebraucht wird. So die Theorie. „Wir mussten dem Haus Hosenträger und einen Gürtel anziehen“, erklärt Architekt Waldemar Korte, während er in Beckum im zukünftigen Gästebad steht und auf eine dicke Wand deutet. Viele der tragenden Wände, die eigentlich aus zwei parallel hintereinander gedruckten Bahnen bestehen sollten, mussten sicherheitshalber mit etwas Abstand zueinander platziert und mit Ortbeton verfüllt werden. Die Behörden trauten der neuen Technik offenbar noch nicht ganz über den Weg. Dabei könne die schmalere gedruckte Struktur alles selbst tragen, ist Korte überzeugt. „Der Druckbeton ist fester als der normale, den wir hier zusätzlich in die Hohlräume gefüllt haben“, erläutert er die Kuriosität des Pionierprojekts, bei dem die Materialeinsparung noch nicht wirklich geglückt ist. In Zukunft aber könnten Gebäudeteile nur noch so massiv sein, wie sie müssen, um ihre Last zu tragen. Und: Schon jetzt ist keine Schalung mehr vonnöten. Normalerweise wird Beton in Formen vornehmlich aus Holz gegossen; man baut also gewissermaßen doppelt. Auch auf eine Vermummung aus Sondermüll, ein Wärmedämmverbundsystem, wurde in Beckum verzichtet, stattdessen kippten die Bauarbeiter mineralische Dämmung zwischen zwei Druckwände. Sollte das Haus mal nicht mehr gebraucht werden, kann man das Material absaugen und wiederverwenden – Müll entsteht nicht. Zudem wurde der Kohlendioxidausstoß reduziert. Das Bindemittel des Druckmörtels hinterlasse einen CO2-Fußabdruck, der etwa zwei Drittel kleiner ist als der von herkömmlichem Portlandzement, heißt es von HeidelbergCement.
Fabian Rupp, gelernter Maurer und ehrgeiziger Jungunternehmer aus Bayern, will mehr. Er hofft, bald zu dreißig Prozent recycelte Materialien verwenden zu können. Seine Firma hat in Wallenhausen bei Ulm ein weiteres Gebäude gedruckt. Anfangs war die neue Technik für den 27-jährigen Geschäftsführer im Bauunternehmen seines Vaters eher eine „coole Spielerei“. Nun wurde sogar in Tokio und Istanbul über sein Haus berichtet, das mit 380 Quadratmetern auf drei Etagen das erste Mehrfamilienhaus und zugleich das größte Haus Europas aus dem Drucker ist. Rupp hofft, dass er bald einen Kreislauf schließen kann: Sein Unternehmen erledigt auch Abbrucharbeiten. Der Beton-Müll der alten Häuser könnte in neuen verdruckt werden. Die Forschung ist dran, doch es dauert, bis Innovationen in der Praxis ankommen. Kürzlich wurde in Wallenhausen der Estrich verlegt, auch ein Dach und Fenster hat das Haus bekommen. Ein komplett fertiges Gebäude spuckt kein 3-D-Drucker der Welt aus. Vieles wird herkömmlich produziert und montiert, darunter meist auch die Decken, weil es noch keine marktreife Lösung gibt, um Druck-Beton so auszustatten, dass er die Zugbeanspruchung bewältigen kann. Im Sommer werden in Wallenhausen die ersten Mieter einziehen. Wie es sich wohl anfühlen wird, in einem Druck-Haus zu leben? Nur ganz wenige Gebäude sind bisher bezogen. Wahrscheinlich aber lebt es sich nicht anders als anderswo. Fabian Rupp zum Beispiel hat fast alle Wulstwände von innen verputzt, sodass man die Technik dahinter gar nicht bemerkt.
Beim Haus aus dem Drucker wird der Materialeinsatz minimiert. Holzverschalungen können wegfallen. Und es wird daran geforscht, den Beton-Müll alter Häuser in neuen verdrucken zu können.
Für ihn soll aus Spielerei bald Big Business werden. Das große Potential des 3-D-Drucks liegt im Gestaltungsspielraum: Das Haus in Beckum etwa mit seinen abgerundeten Formen wäre mittels herkömmlicher Methoden nur unter hohem Aufwand zu realisieren gewesen. Fabian Rupp hat sich bei seinem ersten Print-Experiment zwar für eine sehr klassische Form entschieden, aber er sagt: „Wenn der Architekt bisher eine runde Wand wollte, hat das viel Geld gekostet. Man brauchte eine Sonderschalung. Jetzt sage ich halt: Runde Wand? Kein Problem, kostet dasselbe, dem Drucker ist’s egal.“
Rupp tüftelt an einem Katalog, mit dem er die Fertighausproduktion in die Zukunft führen will. Der Kunde kann nach Lust und Laune wählen: dieses eckige Haus oder nein, lieber das etwas kugelige, aber mit einer großen Terrasse. Bis zu dreißig Prozent weniger Kosten seien beim Rohbau in einigen Jahren drin. Auch Architekt Waldemar Korte sieht das so. Allerdings macht der Rohbau nur etwa ein Drittel der Gesamtbaukosten aus. Das bayerische Haus war noch genauso teuer wie ein konventionelles, das Beckumer wurde vom Land Nordrhein-Westfalen kräftig bezuschusst. Wenn aber in Zukunft Entwicklungskosten wegfallen und zwei Arbeiter in sechs Tagen einen Rohbau errichten, anstatt vier Arbeiter in 18 Tagen, wird es tatsächlich günstiger. Hört man von andernorts teils recht unglaubwürdige Schnäppchenpreise, sieht man es hierzulande differenzierter: Der 3-D-Haus-Druck ist kein Allheilmittel. Bei größeren Gebäuden, im Mehrfamilien- oder Bürohausbau, bei Reihenhäusern und außergewöhnlichen Formen sieht Korte Einsparpotential. Wer sich aber einen kleinen freistehenden Bungalow wünscht, sei mit herkömmlichen Methoden besser bedient.
Gerade findet auf der Welt ein regelrechtes Wettrennen statt: Überall wachsen gedruckte Häuser aus der Erde, jedes ist mit irgendeinem Superlativ bestückt: das erste, das größte, das höchste, das schnellste. Schaut man sich die Print-Architektur genauer an, stellt man fest: Vieles wirkt ziemlich konventionell; fast ein wenig langweilig. „Wenn neue Materialien oder Techniken in die Welt des Bauens kommen, gibt es oft eine Übergangsphase, in der mit dem Neuen genauso gebaut wird wie vorher mit dem Alten“, erklärt Oliver Tessmann, Professor für Digitales Gestalten an der TU Darmstadt. Bei der gusseisernen Architektur im 19. Jahrhundert etwa. Da wurden anfangs Konstruktionsprinzipien angewandt, die aus dem Holzbau stammten. Erst später entstanden neue Gebäudetypologien wie die großen, weitspannenden Bahnhofshallen, die die Möglichkeiten des Materials voll ausschöpften. „Wir sehen heute beim 3-D-Druck eine ähnliche Entwicklung.“ Gestalterisch und konstruktiv geht es fast darum, radikalen Wandel zu vermeiden. „Es werden heute Häuser gedruckt, wie wir sie schon immer gebaut haben – nur etwas effizienter und schneller.“ Zugleich aber entstehen in Forschungslabors und Design-Ateliers teils visionäre Prototypen, die Architektur aus dem Drucker neu denken, sagt Tessmann. Und die zeigen, dass in der additiven Fertigung von Gebäuden und insbesondere Bauteilen weitaus mehr Potential schlummert, als wir bisher gemeinhin wahrnehmen.
Da ist zum Beispiel das Start-up 3F Studio, hervorgegangen aus Projekten an der TU München. Die Gründer Luc Morroni, Moritz Mungenast und Oliver Tessin haben die innovative, lichtdurchlässige Fassade „Fluid Morphology“ erdacht, die an jeden Standort individuell angepasst werden kann. Vielleicht ist sie bald erstmals im großen Maßstab zu bestaunen, für ein Konzerthaus sei sie im Gespräch, heißt es von 3F Studio. Die wellige, weiß schimmernde Struktur sieht aus wie eine faszinierende Eislandschaft. Durch Hightech werden „Form und Funktion fusioniert“, sagt Oliver Tessin – daher auch der Name 3F. Geometrie und Innenaufbau der Fassade sind in Zusammenarbeit von Mensch und Maschine so raffiniert konstruiert, dass sie vor Wind und Wetter schützt, verschattet, wärmt, kühlt, belüftet und für optimierte Akustik sorgt. Das alles in einem einzigen Bauteil, gedruckt aus einem einzigen Material: Kunststoff. Der wird unter anderem aus alten PET-Flaschen gewonnen. 3F Studio möchte die neue Technik auch mit neuen, nachhaltigen Materialien denken. Im Fall der Fassade etwa mit Algen oder Chitin; erste kleine Prototypen gibt es bereits. Als Moritz Mungenast „Fluid Morphology“ an der Uni in Ecuador vorstellte, erzählte man ihm, dass das Land einer der größten Shrimps-Lieferanten der Welt sei. „Die wissen nicht, was sie mit den Schalen anfangen sollen. Und wir könnten das Chitin gut gebrauchen.“ Es mache natürlich keinen Sinn, Krabbenschalen aus Ecuador nach Europa zu schippern. 3F Studio träumt davon, je nach Standort eines Bauteils lokale Abfallmaterialien zu nutzen – und ihnen per 3-D-Druck eine neue Aufgabe zu geben. Statt Downcycling entstehen so intelligente Upcycling-Bauprodukte.
Mario Cucinella arbeitete kürzlich nicht mit Müll, sondern mit Matsch. Der italienische Architekt mit Büros in Bologna und New York hat gemeinsam mit der Firma WASP, die kleine wie große 3-D-Drucker produziert und vertreibt, bei Ravenna den Prototyp einer behaglichen Zwei-Raum-Urhütte fertiggestellt, aus der ein ganzes Ökodorf erwachsen könnte. 60 Quadratmeter groß ist sie, ausgestattet mit Miniküche plus -bad, und sieht aus wie zwei aneinandergewachsene Kugelkakteen, nur ohne Stacheln. Die Kuppelform war keine rein ästhetische Wahl, sondern Ergebnis einer Anpassung an Kräfteverläufe und Klima. Die Behausung besteht nahezu vollständig aus Lehm, 60 Kubikmeter Erde wurden verbaut, gegraben aus einem Loch unweit der Baustelle. Das Experiment illustriert, dass Häuser in Zukunft auch mit rundum ökologischen Materialien gedruckt werden könnten; sogar an druckbarem Holz wird bereits geforscht. Lehm ist ein archaischer, absolut zukunftsträchtiger Baustoff, komplett recycelbar und fast überall auf unserem Planeten in Hülle und Fülle vorhanden.
Ganz ohne die Kraft des Betons wird die Welt in naher Zukunft sicher nicht auskommen. Das Schweizer Projekt „Smart Slab“ zeigt eindrücklich, wie der Verbrauch des kostbaren, weil klimaschädlichen Materials drastisch reduziert werden kann. Benjamin Dillenburger, Professor für Digitale Bautechnologien an der ETH Zürich, und sein Team haben mithilfe des 3-D-Drucks eine 78 Quadratmeter große Decke hergestellt. Sie ist im Vergleich zu einer herkömmlichen Ausführung 70 Prozent leichter und verbraucht über 60 Prozent weniger Material. Durch eine Software wurde die Geometrie so optimiert, dass überall nur exakt so viel Beton liegt wie unbedingt erforderlich. Gedruckt wurde nicht die Decke selbst, sondern ihre Schalung, eine aufwendige Form, in die der Beton gegossen wurde. Das besondere 3-D-Druck-Verfahren, das hier zur Anwendung kam, ermöglicht sehr komplexe Strukturen und hat eine enorm hohe Auflösung, die bis auf die Größe eines Sandkorns reicht.
Dillenburgers Forschung zeigt auch: Digitales Entwerfen und additive Technik beflügeln die Fantasie und ermöglichen Architekten, Formen zu kreieren, so filigran, wie sie sie mit der Hand niemals hätten zeichnen können – geschweige denn bauen. Ein konkretes Beispiel dafür ist ein bizarrer, berauschender Ort: eine Grotte aus Sandstein, über drei Meter hoch, ornamental ziseliert bis ins Detail, in ständiger Entfaltung, opulent-barock und zugleich nicht von dieser Welt. „Digital Grotesque II“, zu sehen in der permanenten Ausstellung des Centre Pompidou in Paris, ist eine gedruckte Rauminstallation, changierend zwischen Kunst und Architektur, die Dillenburger vor einigen Jahren zusammen mit dem Kollegen Michael Hansmeyer ersann. Die beiden Architekten programmierten einen Computer so, dass er unendliche Variationen winziger Verästelungen erzeugte. Gedruckt wurde über mehrere Tage, zusammengebaut wurde „Digital Grotesque“ an nur einem Tag aus vielen individuellen Volumen, deren Herstellung nicht teurer war als die von simplen Würfeln. Gerade tüftelt ein Team der ETH daran, mehrstöckige Strukturen auch durch schichtweises Ablegen von Materialsträngen – also das Verfahren, das bei 3-D-gedruckten Häusern angewandt wird – mit hoher Auflösung zu realisieren. Ergebnis einer ersten Studie sind fremdartige, in sich selbst verwobene halbhohle Säulen, jede ein Unikat, drei Meter hoch und in etwa zwei Stunden gedruckt.
Wer jenseits von Superlativ-Sensationsmeldungen zum Beton-Einerlei aus getürmten Wülsten genauer hinschaut, dem wird bewusst: Der 3-D-Druck wird auf lange Sicht wohl nicht nur halten, was er verspricht. Er entfesselt ästhetische Freiheiten, die die Baukultur fundamental verändern könnten. War Material bisher eher günstig und geometrische Komplexität teuer – weshalb es sinnvoll war, quadratisch, praktisch, gut zu bauen -, könnte es in Zukunft umgekehrt sein. Werden unsere Städte einmal also gänzlich anders aussehen, als wir sie heute kennen? Eines jedenfalls ist gewiss: Rund hundert Jahre nach seinem Entstehen wird der gestalterische Leitsatz der Moderne – Form follows function – gerade noch einmal völlig neu gedacht.
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Quelle: F.A.Z. Quarterly
Veröffentlicht: 22.07.2021 16:43 Uhr
