: Diesseits von Angebot und Nachfrage
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In Deutschland hat der Kulturpessimismus derzeit wieder Konjunktur. Erst kam der Schock der Finanz- und Wirtschaftskrise. Ökonomisch sind hierzulande mittlerweile alle Indikatoren wieder aufwärtsgerichtet, doch die Spuren der Systemdebatte sind trotzdem nicht getilgt, Selbstzweifel sind geblieben.
In Deutschland hat der Kulturpessimismus derzeit wieder Konjunktur. Erst kam der Schock der Finanz- und Wirtschaftskrise. Ökonomisch sind hierzulande mittlerweile alle Indikatoren wieder aufwärtsgerichtet, doch die Spuren der Systemdebatte sind trotzdem nicht getilgt, Selbstzweifel sind geblieben. Behält Marx am Ende Recht, dass der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen wird? Dann kam auch noch die Sarrazin-Debatte: "Deutschland schafft sich ab". Die abendländische Kultur sieht sich wieder einmal bedroht.
Zu den großen Kulturpessimisten gehörte einst auch der wortgewaltige Ökonom Wilhelm Röpke (1899-1966). Als jüngster deutscher Professor wurde er 1924 mit nur 24 Jahren an die Universität Jena berufen. Die Schriften dieses berühmten Mitstreiters der Ordoliberalen sind gerade unter dem Eindruck der jüngsten Krise zu neuer Popularität gelangt. In "Jenseits von Angebot und Nachfrage", seinem letzten großen Werk von 1958, zieht Röpke eine traurige Summe der intellektuellen und politischen Fehlentwicklungen sowie der daraus folgenden soziologischen und mentalen Pathologien des 20. Jahrhunderts.
Selbst in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts kommt der Leser von "Jenseits von Angebot und Nachfrage" noch ins Grübeln - selbst wer mit einer optimistischeren Natur gesegnet ist als Röpke; wer ihm nicht folgen mag in dörfliche Idyllen; wer seine Klagen über den Werteverfall zu apokalyptisch findet; wer im Strukturkonservatismus einen Gegensatz zur Freiheitlichkeit wittert. Denn Röpke benennt intellektuelle Fehlentwicklungen, von denen sich die Menschheit bis heute nicht befreit hat. Er fährt eine schier erschlagende Fremdwörterliste von unvermindert aktuellen fatalen "-ismen" auf - als da wären der Utilitarismus (der Kult der Nützlichkeit), der Rationalismus (wir maßen uns an, alles planen zu können), der Konstruktivismus (wir schmähen die spontane Ordnung), der Modernismus (wir vergewaltigen auf Schritt und Tritt die Natur), der Individualismus (Vereinsamung des Menschen), der Etatismus (die Macht des Staates wächst ungebändigt).
Die Klammer um all dies bilden Ökonomismus und Säkularismus. Ökonomismus bezeichnet die Geisteshaltung, die alle Lebensbereiche wirtschaftlichen Kriterien unterwirft. Wobei Röpke freilich erkennt, dass das Urheberrecht auf eine solche moralische Entwicklung mitnichten allein der Kapitalismus erheben darf, wie man heute zu glauben scheint, sondern in noch deutlich stärkerer Weise der Sozialismus. Die kulturelle Kehrseite hiervon besteht in der "erschreckenden Entchristlichung und irreligiösen Säkularisierung unserer Kultur", in der geistigen Verarmung der Menschheit.
Die Ökonomismusthese wäre schlichter Nonsens, wenn Röpke im Gegenzug dazu aufrufen würde, reale Knappheiten zu ignorieren und den Sinn des marktlichen Ausgleichs anzuzweifeln. Doch ihm war klar, dass Rechenhaftigkeit an sich nicht von Übel ist. Die Menschheit lebt in einer Welt knapper Güter und muss haushalten; das gilt im Materiellen wie im Immateriellen. Die Ökonomismusthese wäre zudem schlichtweg unzutreffend, wenn Röpke abstritte, dass die Marktwirtschaft auch moralische Werte schafft. Doch er spricht selbst von den Tugenden "der Arbeitsamkeit, der Rührigkeit, der Sparsamkeit, des Pflichtgefühls, der Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Vernünftigkeit", die der Markt unterstützt, und lobt ausdrücklich diese "Mittellage" der Moral.