Marcel Berlinghoff: Das Ende der „Gastarbeit“ : Einwanderung und Identität
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Bei der Suche nach Lösungen kam es zu einem intensiven Austausch zwischen den Fachbeamten und Fachleuten der betroffenen Länder; das ist ein bemerkenswertes Ergebnis von Berlinghoffs Untersuchung. Das Bonner Auswärtige Amt forderte im Juni 1972 von seinen Botschaftern Berichte über die Handhabung der Arbeitsmigration in den anderen Ländern an; das Pariser Außenministerium tat ein Jahr später genau das Gleiche. Im Oktober 1972 trafen sich Regierungsvertreter der europäischen Industriestaaten sowie Vertreter der EG-Kommission, des Europarats, der Internationalen Arbeits-Organisation und der OECD zu einem Erfahrungsaustausch in Bonn, der von allen Teilnehmern als außerordentlich anregend empfunden wurde.
Der Erfahrungsaustausch auf europäischer Ebene verstärkte den Handlungsdruck. Berichte über Gettobildung und soziale Spannungen in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden ließen die soziale Problematik auch dort als drängend erscheinen, wo sie wie in der Bundesrepublik objektiv gesehen noch kaum bestand. Gleichzeitig zeichnete sich eine Lösung ab, wie sie die Schweiz unter dem Druck diverser Volksbegehren-Initiativen bereits vorexerziert hatte: Begrenzung des Zuzugs und stärkere Integration der bereits ansässigen Ausländer.
Bei der Umsetzung dieses Programms agierten die nationalen Regierungen aber ganz unabhängig voneinander, mit unterschiedlichem Geschick und auch mit unterschiedlichem Erfolg. Bemühungen der Brüsseler Kommission, eine gemeinsame Anwerbepolitik aller Mitgliedsländer der EG zu entwickeln, liefen ins Leere, entsprechende Ankündigungen in Regierungsprogrammen wurden nicht verwirklicht. Das Problem des richtigen Umgangs mit der ungewollten Einwanderung war viel zu heikel, um es aus der Kontrolle der Regierungsbürokratien zu entlassen. Von einer Europäisierung der Migrationspolitik - so Berlinghoff - sollte man daher nicht sprechen; zu konstatieren ist nur eine tendenzielle Vereinheitlichung.
Richtig ist dagegen, was Berlinghoff über die Geschichte der Ausländerbeschäftigung hinausgehend feststellt: Die Gleichartigkeit der Entwicklungen und der Austausch darüber trugen zu einer Veränderung und Bekräftigung der europäischen Identitätskonstruktion bei. Hatte man im industriellen Nordwesten in den 1950er und 1960er Jahren die „Südländer“ generell als Fremde betrachtet, so wurden im Zuge der geographischen Ausweitung der Herkunftsgebiete der Migranten Portugiesen, Spanier, Italiener und Griechen als Europäer gesehen, die zunehmend willkommen waren, während die sonstigen Mittelmeer-Anrainer als Angehörige „fremder Kulturkreise“ galten, denen man die Integration in die europäischen Gesellschaften nicht zutraute. Die Freizügigkeit innerhalb der EG und im Rahmen weiter bestehender Anwerbeverträge trug dazu bei, die Unterschiede zwischen Einheimischen und „europäischen“ Fremden weiter einzuebnen. Gleichzeitig verfestigten die Zuwanderungsbeschränkungen für Türken, Nordafrikaner und andere „Außereuropäer“ den Glauben an ihre essentielle Fremdartigkeit. Die Türken, die sich doch schon seit Beginn der 1960er Jahre auf dem Weg nach Europa geglaubt hatten, sollten das Nachsehen haben.
Marcel Berlinghoff: Das Ende der „Gastarbeit“. Europäische Anwerbestopps 1970-1974. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012. 403 S., 49,90 €.