Philipp Müller: machiavelli.net : Das Individuum ist die Botschaft
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Bild: Scoventa Verlag
Der Fürst lässt grüßen: Philipp Müller sucht Pfade in die neue Gesellschaft, die durch das Internet geformt wird.
Auch das zweite Netz ist inzwischen in die Jahre gekommen, von manchen wird schon ein drittes gefordert, das von den überzogenen Erwartungen und falschen Leitbildern der ersten Versionen befreit ist. Für Philipp Müller, Mitarbeiter einer Technologiefirma und Politikdozent an deutschen und amerikanischen Universitäten, haben viele aber noch nicht einmal den Wandel begriffen, den die ersten beiden Netze über die Welt gebracht haben. Wer sich als Vordenker betätigt, hat erst einmal die geistigen Modernisierungsdefizite all derer aufzuarbeiten, die in der Frühphase des Netzes steckengeblieben sind.
Dieser Aufgabe verschreibt sich sein Buch „machiavelli.net“. Man darf sich vom Titel nicht täuschen lassen. Müller nimmt den italienischen Machtpragmatiker nicht als Kronzeugen einer kalten Misanthropie, sondern als Frühdiagnostiker, der erkannt habe, dass seiner Zeit mit den alten erbaulichen Lehrsprüchen nicht mehr beizukommen gewesen sei. Ähnlich forme das Internet heute eine neue Gesellschaft, auf die alte Denkweisen nicht mehr passen. Wer sich sein Denken nicht von Softwaredesignern aus der Hand nehmen lassen will, muss selbst das Medium formen. Kaum einer würde hier widersprechen. Aber welche Muster bieten sich an?
Vom großen Unternehmen zum freien Kollektiv
Eine Zeitlang hat man Garagenfirmen, die sich zu globaler Größe auswuchsen, als Leitbilder einer neuen, offenen, vom Internet geformten Gesellschaft angesehen. Do it the Google way, hieß es damals. Inzwischen haben sich einige dieser Idole zu Marktführern gewandelt, die den Weltverbesserungsanspruch früherer Jahre nur noch im Markenlogo führen. Facebook bewirtschaftet die Privatsphäre seiner Kunden, Google fordert Offenheit, hält seinen Algorithmus aber geheim, Apple geriert sich bei seinen Applikationen als Autokrat. Im Politischen drückt man sich vor der Verantwortung, wo es nur geht. Nach dem Vorbild dieser Unternehmen ist kein Staat zu machen. Übrig geblieben ist das Vorzeigeprojekt Wikipedia. Aber die Gesellschaft beschäftigt sich nicht nur mit enzyklopädischen Fragen.
Müller lässt sich davon die Laune nicht verderben. Er baut seinen Optimismus auf die unermesslichen individuellen Ressourcen, die mit den neuen Medien gehoben werden können. Anders als bei den Massenmedien werden Enthusiasmus und Engagement hier nicht erstickt, sondern gefördert. Der Autor nennt erfolgreiche Beispiele freiwilliger Kollaboration wie die politische Plattform Ushahidi, die per SMS-Server und Kartographiedienst auf eine viel direktere Weise als traditionelle Medien über den Krieg in Uganda informierte. Leider ist die Zahl derer, die sich langfristig in kollaborativen Projekten engagieren, gering. Müller siedelt sie bei einem Prozent an. Sie wird abnehmen, je mehr Projekte eine freiwillige Mitarbeit einfordern - schon allein aus Zeitgründen.
Grenzen des Postmaterialismus
Das Problem der Gratisökonomie ist, dass sie arrivierten Unternehmen das Wasser abgräbt, ohne selbst Gewinne und Arbeitsplätze zu erwirtschaften. Traditionelle Geschäftsmodelle geraten in die Krise, ein neues Modell kann Müller ihnen aber nicht empfehlen. Gelegentlich hat auch er die Tendenz, am eigenen Ast zu sägen. Was das eigene Buch betrifft, wird er froh über das Lektorat seines Verlags gewesen sein. Eine wirtschaftliche Existenzmöglichkeit in der neuen Ökonomie kann er für ihn aber nicht erkennen.
Man lebt heute in einer Übergangsökonomie und wird sich auf manche Werte zurückbesinnen müssen, die man in der ersten Euphorie verschleudert hat. Müllers Abgesang auf die reale Wirtschaft im Namen des Postmaterialismus kommt zu früh. Es hat nicht nur mit der Finanzkrise zu tun, dass sich Deutschland zurzeit wieder auf die Industrieförderung besinnt. Schließlich geht es hier auch darum, die Blütenträume einer Finanzwirtschaft zu korrigieren, die immaterielle Werte übertrieben hatte. In der Tendenz liegt der Autor daher richtig, wenn er meint, dass die gesunkenen Transaktionskosten im Digitalen die Wirtschaft entscheidend ändern werden, aber seine Perspektive ist etwas zu pauschal. Kühlschränke und Windräder werden auf absehbare Zeit nicht in den virtuellen Aggregatzustand wechseln.
Politik als Programm?
Das dritte große Feld, auf dem Philipp Müller den digitalen Wandel verfolgt, ist die Politik. Auch hier führt er zu den wichtigen Fragen: Wie sind Beteiligungsansprüche und Transparenzforderungen in politische Verfahren einzubinden, ohne sie zu lähmen? Lässt sich das Entscheidungsverfahren von Programmierern („rough consensus and running code“) auf politische Fragen übertragen, oder bleibt es auf technische Probleme begrenzt? Wohin führt es, Gesellschaft nach dem Muster von Programmen zu verstehen? Bei der Antwort kommt Müller oft einen Schritt zu spät. Der missratene Versuch der Piratenpartei, die Politik ganz auf Softwarebasis zu stellen, fehlt in seinem Buch völlig.
Auch in der Politik ist die Phase der ersten digitalen Euphorie schon wieder vorbei. Die Forderungen nach Transparenz werden nicht mehr ganz so laut gestellt. Die versandeten Occupy-Proteste lehren keine Ehrfurcht vor digitalen Entscheidungsprozessen. Das Hauptanliegen des Autors - Offenheit und dezentrale Verfahren strategisch einzusetzen - bleibt letztlich ein wenig unscharf. Wichtig scheint heute die Frage, wie man persönliche Bindung und Verantwortung in der virtuellen Gesellschaft schafft und Projekten eine langfristige Perspektive gibt. Man möchte Müllers Optimismus gern teilen. Aber man möchte auch die Gründe dafür kennen.