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Isaak Babels „Marija“ in Düsseldorf : Wo gehobelt wird, da fallen Menschen

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Fall und Rauch: Marie Burchard als Ludmilla und Klaus Schreiber als Dymschitz in der Düsseldorfer „Marija“

Fall und Rauch: Marie Burchard als Ludmilla und Klaus Schreiber als Dymschitz in der Düsseldorfer „Marija“ Bild: Bernd Uhlig

Was kostet eine Revolution? Triumph der Wiederentdeckung eines großen Dramas: Andrea Breth inszeniert Isaak Babels „Marija“ in Düsseldorf.

          6 Min.

          Das Stück spielt 1920 in Russland. Die junge Sowjetunion im Bürgerkrieg. Rote Armee gegen Weiße, Invasionstruppen und polnische Eroberereinheiten. Marija, die Titelheldin, tritt nicht auf. Sie schreibt nur einen Brief und kämpft als rote Politkommissarin an der Front. Ihre Familie, Großbürgertum, Vater einst zaristischer General, Schwester Ludmilla ein Adelsgroupie, lüstern-kokett, samt Hausdame und Kinderfrau, bewohnt in St. Petersburg, das noch nicht Lenin-, sondern Petrograd heißt, immer noch die Beletage.

          Die siegriechen Revolutionsproletarier kommen erst langsam aus den Kellern und auf den Geschmack. Dazwischen Schieber, Schwarzhändler (Lebensmittel gegen Sex), Schmuggler (Zwirn, Juwelen, Graupen, Schnaps, Wurst), Krüppel (Beine ab, Gesicht verbrannt), Zuhälter. Zwischenzeitstimmung. Das Alte ist nicht mehr, aber immer noch da. Das Neue ist zwar da, aber noch nicht wirklich. Motto: "Wo gehobelt wird, da fallen Späne."

          Geschrieben wurde das Stück 1935: die etablierte Sowjetunion im beginnenden Terrorrausch. Stalin gegen alle. Isaak Babel, der geniale, zarte, fiebrig alles beobachtende Jude aus Odessa, ritt 1920 mit der Roten Reiterarmee als Regimentsschreiber und fand: "Die einen werden die Revolution machen, und ich werde das singen, was sich abseits findet, was tiefer liegt." Er schlief später mit der Frau des NKWD-Chefs und war ganz nahe der Revolution, hielt sich zugleich hochseilartistisch von ihr fern und betrachtete die Alten und die Neuen aus der Distanz untergangsseliger Musikalität. Er feierte niemanden und verurteilte niemanden und hatte, als er "Marija" schrieb, noch etwas über fünf Jahre zu leben.

          Dann ließ ihn Stalin erschießen. Denn Babel verweigerte sich dem Motto: "Wo gehobelt wird, da fallen Späne." Babel schaute genau hin, wie die Späne fielen: in sieben dramatischen "Marija"-Bildern die Untergangsspäne der alten Klasse und in einem achten, nachgereichten Bild die Aufgangsspäne der neuen. Seine Späne aber waren Typen gesellschaftlicher Natur, Klassenbeispiele in Widersprüchen. Der alte General zum Beispiel schreibt ein Buch über "Die Geschichte der Kaserne" und dient sich den Sowjets als Berater an. "Marija" wird kaum gespielt. Ein wunderbares Stück, aber vergangen mit seiner Zeit. Wir brauchen andere Stücke.

          Menschen im Fallen aus allen Sicherheiten

          Im Schauspielhaus Düsseldorf sieht man jetzt solch ein anderes Stück. Es heißt auch "Marija", stammt auch von Isaak Babel und wirkt in der Inszenierung von Andrea Breth wie ein Drama von heute. Dabei verfährt diese große, genauigkeitsfanatische, jeden Ton und Buchstaben, jedes Wort umdrehende Regisseurin wie schon in ihren epochalen Wiener Inszenierungen der "Emilia Galotti" (2002) oder des "Don Carlos" (2004) so, dass sie das alte Stück nicht aktualisiert.

          Kostüme und Bühnenbild sind aus der alten Zeit, vom Flügel über die Pelzstola und den Breeches bis hin zu den hohen, kalkig vornehmen verkommenen Räumen mit den leeren, breiten Türen, die Raimund Voigt entworfen hat. Vielmehr gräbt sie im alten Stück mit dem Schreckensblick und dem Schockbewusstsein von heute das aus, was uns daran angeht. Ihr Motto lautet: "Wo gehobelt wird, fallen Menschen." Menschen im Fallen aus allen Sicherheiten und Verhältnissen, die noch einmal nach dem Leben greifen in letzter Lust, Gier, Rache, Laune.

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