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Literatur : Leben als Leerstelle

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Hans-Ulrich Treichel ist nicht der erste Schriftsteller, der um ein einziges Thema kreist. Solange Unerledigtes in den Tiefen rumort und den Schriftsteller zu immer neuen, beunruhigenden Spielarten desselben Stoffes treibt, muss das kein Nachteil sein.

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          Hans-Ulrich Treichel ist nicht der erste Schriftsteller, der um ein einziges Thema kreist. Solange Unerledigtes in den Tiefen rumort und den Schriftsteller zu immer neuen, beunruhigenden Spielarten desselben Stoffes treibt, muss das kein Nachteil sein. Ein Autor, der nicht nur die Spitzen des Eisberges beleuchtet, sondern abtaucht in die Tiefenströmungen des Unbewussten, wo das Eis rätselhaft blaugrün leuchtet - dahin will Treichel mit seinem neuen Roman "Anatolin", der ein autobiographisches Kernthema wiederaufnimmt, das schon in der Erzählung "Der Verlorene" (1998) und im Roman "Menschenflug" (2005) umkreist wurde: die Suche nach dem auf der Flucht aus den deutschen Ostgebieten verschollenen Bruder. Ein deutsches Urtrauma und ein familiäres Geheimnis, das während der ganzen Kindheit von den Eltern lautstark beschwiegen wird, aber gerade darum das Kind nachhaltig verstört.

          Während Treichels Roman "Menschenflug" ein historisches Vexierspiel präsentiert, in dem das Findelkind Nummer 2307 am Ende zwar aufgespürt, aber die leibhaftige Begegnung aus pekuniären Berechnungen vermieden wird, unternimmt der Held von "Anatolin" eine breit angelegte Suche, in deren Laufe er die weggebrochenen Teile der Familiengeschichte künstlich einsetzen will. Die autobiographische Leerstelle soll aufgefüllt werden mit der Rekonstruktion der elterlichen Lebensgeschichte. Der Erzähler diagnostiziert bei sich ein geheimes Leiden, den "Morbus biographicus", eine Form von biographischer Entleerung.

          Symptom dieser Krankheit ist der Verlust jeglichen biographischen Gefühls. Als Folge dieses Mankos macht er bei sich eine schwankende Identität aus. Das Ich kennt keinen Halt und keine Gewissheiten, an denen es sich zuverlässig festklammern könnte. Damit zielt Treichel exemplarisch auf das Drama einer ganzen Generation: der Kinder der Kriegseltern, die ihre Biographie in einem Meer von Schweigen neu erfinden mussten.

          Dies ist ein Versuch, den Familienroman literarisch zu synthetisieren. Vom Bild des Vaters ist dabei nicht viel mehr als ein bedrohlicher Schatten geblieben. Verbittert und erstarrt durch die Kriegserlebnisse, fasste das Oberhaupt den Sohn hart an. Ohne rechte Hand war er aus dem Gemetzel zurückgekehrt, das Kind kennt ihn nur als jähzornigen Mann mit dem schwarzen, zerschlissenen Lederhandschuh über der Prothese. Es ist eine freudlose Kindheit, deren seltene Glücksmomente vom Schellen der Klingel im kleinen Dorfladen und dem abendlichen Nachzählen der Münzhaufen abhängt. Die Angst vor Umsatzverlust hält die Familie in ständiger Panik, zum zweiten Mal Haus und Hof zu verlieren, in der Gosse zu landen oder nach Polen oder Russland zurück zu müssen.

          Der zweite prägende Daueralarm wird verursacht durch den auf der Flucht verlorengegangenen Günter. Die Mutter schwört unter Tränen, dieser sei verhungert. In Wahrheit ist er verschollen.

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