https://www.faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/feuilleton/heinz-bude-bildungspanik-es-kaeme-darauf-an-die-ungleichheit-zu-nutzen-11126858.html

Heinz Bude: Bildungspanik : Es käme darauf an, die Ungleichheit zu nutzen

  • -Aktualisiert am

Bild: Verlag

Wenn man unter sich bleibt, braucht man keine Angst zu haben, dass die Kinder falschen Kontakt pflegen: So sieht für Heinz Bude die Logik des Bildungsprotektionismus aus, die er als Panik abtut.

          4 Min.

          Heinz Bude analysiert in seinem Essay ein Phänomen, das er „Bildungspanik“ nennt. Gemeint sind panische Verhaltensweisen der, wie es heißt, „nervösen Aufsteigerfraktion der Mittelklassen“, die ihren Kindern die besten Plätze in den höheren Schulen sichern wollen, und dies möglichst in Privatschulen. Diese Klassen sind entstanden als Folge der Bildungsexpansion, die eingesetzt hat, nachdem Georg Picht 1964 die „deutsche Bildungskatastrophe“ ausgerufen hatte. „Bildungspanik“ ist gleichsam die Bilanz der „Bildungskatastrophe“. Knapp fünfzig Jahre nach Pichts Kassandraruf hat sich ein Bildungssystem entwickelt, in dem das Gymnasium vielerorts zu einer neuen Form von Volksschule geworden ist. Bude geht zu Recht davon aus, dass die Bildungsexpansion vor allem dem Gymnasium genutzt hat, allerdings um den Preis nivellierender Tendenzen. Die Bildungsexpansion war und ist nicht zum Nulltarif zu haben.

          Letztlich wird ein sich ständig erweiternder Matthäus-Effekt beschrieben. Mit jeder Ausweitung des Zugangs zum Gymnasium weitet sich auch der Bildungsanspruch der Eltern aus. Wer ein Gymnasium erfolgreich absolviert hat, sieht zu, dass seine Kinder genau das Gleiche tun können. Alle anderen Bildungsabschlüsse geraten ins Abseits, aber nicht nur das, zugleich wird die Exklusivität des deutschen Abiturs entwertet. Ökonomen nennen so etwas Inflation.

          Die soziologische Entzauberung der Bildungsaspiration

          Bude geht weiter davon aus, dass Familien immer einen Weg finden werden, staatliche Lenkungen der Schülerströme zu unterlaufen, sofern sie an Bildung interessiert sind und eine Präkariatsposition nicht akzeptieren. Der Essay skizziert eine „verfahrene Lage“, die entstanden ist, insofern sich die Bildungsaspirationen auf eine Schulform hin verengt haben. Für diese Lage von Verengung und Ausschluss gibt es keine „glaubhafte Metaposition“, weil Privilegien gesucht und verteidigt werden. Dennoch sucht Bude nach einer dritten Position, die zwischen den Bildungsaufsteigern und den Absteigern vermitteln kann. Die dafür in Anspruch genommene Grundnorm lautet so: „Die Bildung ist ein öffentliches Gut, das man nicht dem Spiel der Partikularinteressen überlassen darf.“ Gefordert wird gleich zu Beginn eine „aktive Bildungspolitik“, von der dann aber im Verlaufe des Essays kaum noch gesprochen wird. Bildung ist die „entscheidende Leistungskategorie der Leistungsgesellschaft“, doch wie das in welche Bildungspolitik übersetzt werden soll, die nicht in die von Bude herausgestrichene Falle einer bloß formalen Qualitätssicherung à la PISA laufen will, wird nicht weiter ausgeführt.

          Die soziologische Entzauberung der Bildungsaspiration ist dagegen nachvollziehbar, ebenso wie die Kritik am ganzheitlichen deutschen Bildungsbegriff, der sich auf Elitenkulturen und nicht auf eine demokratische Gesellschaft richtet. Erhellend ist auch die Begrenzung der Ideologie der Chancengleichheit. Im Sinne des englischen Wohlfahrtstheoretikers T. H. Marshall kann man mit Bildung wohl die soziale Bürgerschaft stärken, aber nicht die gesellschaftliche Ungleichheit aushebeln. Es käme darauf an, gerade die Ungleichheit zu nutzen.

          Die „Entschulung der Bildung“

          Das ist gesagt gegen die naive Pädagogik einer „gezielten Entprivilegierung der Starken oder positiven Diskriminierung der Schwachen“. Eine solche Bildungspolitik, das wird am Beispiel der Hamburger Entscheidung gegen die sechsjährige Primarschule abgelesen, läuft „ins offene Messer der empörten Mehrheitsklasse“, die ihr Privileg schützen will und im gegebenen System rational handelt. Man fragt sich, wie dann die Finnen zu ihrer Gesamtschule gekommen sind oder wie die Vereinigten Staaten jemals eine High School haben einführen können. Budes Essay hat Stärken in den soziologischen Analysen des Bildungssystems, aber auch schwächere Passagen, etwa solche über die heutige Lehrerschaft, die sehr typisieren und wenig überzeugen. Und dass noch einmal auf Adornos „Tabus über dem Lehrerberuf“ hingewiesen wird, ist analytisch wenig hilfreich. Den Praktikern gehört die Sympathie, und der „bildungsindustrielle Komplex“ PISA bildet das Feindbild.

          Wo liegt nun die Lösung des Problems, die so nachhaltig angekündigt worden war? Es soll um eine „Entschulung der Bildung“ gehen, die auf einen „Zukunftsdenker wie Ivan Illich“ zurückkommen will. Kritisiert wird die Fixierung auf bestimmte Schulabschlüsse, die ein „erbarmungsloses Sortierungsmuster gerade in den unteren Rängen des deutschen Bildungssystems“ institutionalisiert haben. Um dieser Sortierung auszuweichen, bietet sich für Bude an, „nicht den mittleren Schulabschluss, sondern die berufliche Erstausbildung als Bildungsminimum zu definieren“. Die Lösung liegt daher in der Aufwertung des deutschen Systems der dualen Berufsbildung.

          Die Lösung ist keine

          Das ist kein so neuer Gedanke, der in der Schweiz völlig selbstverständlich gehandelt wird. Der weitaus größere Teil eines Schülerjahrgangs wird dort beruflich sozialisiert und so früh für den Arbeitsmarkt gewonnen. Den Preis für eine solche Strategie nennt Bude nicht. Wenn wirklich die berufliche Erstausbildung das Bildungsminimum definieren soll, bedeutet das eine Trendumkehr im Blick auf die Abiturientenzahl. Vermutlich wird das die Panik noch verstärken. Man kann schlecht die „Statuspanik“ monieren und dann die panikauslösende Institution knapp halten. Nicht „Bildung“ wird heute als Bürgerrecht verstanden, sondern gymnasiale Bildung. Und wer sollte dem Publikum die neue Volksschule wieder nehmen? Das System ist historisch gewachsen, und die Eltern werden sich nach Budes These richten, dass sie die Steuerungen des Staates unterlaufen können. Bude schlägt nicht vor, über solche Fragen demokratisch abstimmen zu lassen, so dass die „Entschulung der Bildung“ auf eine etatistische Politik hinauslaufen würde.

          Doch es gibt Trost. Am Schluss heißt es: „Die Demographie rettet alle.“ Noch selten ist eine Generation in Deutschland „mit so guten Chancen ins Bildungssystem eingetreten“. Aber wenn das so ist, dann sollte sich die Panik schnell wieder beruhigen und löst sich das Problem wie von selbst. Ob es dann noch einen „anderen Begriff der Bildung“ braucht, sei dahingestellt. „Bildung“ ist in Deutschland hoch besetzt, aber doch nur in der Verständigungsrhetorik von Eliten. Selbst das klassische, humanistische Gymnasium ist nicht durch Bildung bewegt worden, sondern durch Bildungspolitik, und über die hätte man gerne mehr erfahren. Budes Essay ist lesbar, in Teilen erfrischend, manchmal unbalanciert, doch immer unterhaltsam. Aber die Lösung ist keine.

          Topmeldungen

          Mitglieder von Verdi und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG während einer Demonstration in Leipzig.

          Lohnkonflikte : Verdi sucht Lösung, die EVG eher nicht

          Weil zwei Gewerkschaften auf einmal streiken, standen am Montag sowohl Nah- als auch Fernverkehr still. Bis Mittwoch könnte zumindest ein teilweiser Kompromiss gefunden werden.
          Israels Premierminister Benjamin Netanyahu nimmt an einer Abstimmung im israelischen Parlament teil.

          Nach heftigem Protest : Netanjahu setzt Justizreform vorerst aus

          Israels Ministerpräsident Netanjahu begründete die Aussetzung der Justizreform damit, dass er einen „Bürgerkrieg“ vermeiden wolle. Das Gesetzesvorhaben wird nun frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt.
          Migranten aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara demonstrieren vor dem Sitz der Internationalen Organisation für Migration in Tunis.

          Migration nach Europa : Die Angst, dass Tunesien kollabiert

          Die Wirtschaftskrise in Tunesien verschärft sich. Aber Präsident Saïed unterschreibt einen Kreditvertrag mit dem Internationalen Währungsfonds nicht. Immer mehr Menschen verlassen das Land. In Europa wächst die Sorge.