Hans-Ulrich Treichels Roman „Grunewaldsee“ : Hinter dem anti-niedersächsischen Schutzwall
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Das Leben ist ein Prozess von Desillusionierungen, bei denen erhebliche Mengen an Komik freigesetzt werden. Zumindest dann, wenn die Enttäuschungsgeschichten von Hans-Ulrich Treichel erzählt werden, einem der wenigen herausragenden Humoristen der deutschen Gegenwartsliteratur.
Das Leben ist ein Prozess von Desillusionierungen, bei denen erhebliche Mengen an Komik freigesetzt werden. Zumindest dann, wenn die Enttäuschungsgeschichten von Hans-Ulrich Treichel erzählt werden, einem der wenigen herausragenden Humoristen der deutschen Gegenwartsliteratur.
Wie Robert Walser ist Treichel ein Autor der kleinen Erfahrung, des scheinbar unscheinbaren Lebensdetails und der kleinen Pointe. In einem Essay hat er einmal beschrieben, wie er dank diverser Einladungen schon auf allen Kontinenten herumgekommen sei: "Das hört sich ziemlich großartig und weltmännisch an, aber ich sage mir immer: Vergiss nie, dass du es bist, der dort herumreist." Das lässt sich auf die Romane übertragen: Es sind die von Phantomschuld gebeugten Treichel- Gestalten, die hier eher spärliche Formen von Wirklichkeit generieren. "Wollte er sein moralisches Lebensgefühl definieren, dann würde er sagen: Ich bin ein Schwarzfahrer mit gültiger Monatskarte", heißt es einmal über Paul, die Hauptfigur des neuen Romans "Grunewaldsee".
Treichels Helden sehen sich alle ziemlich ähnlich; sie sind Figurationen einer fortgesetzten Konfession. Paul ähnelt besonders stark dem Albert aus "Der irdische Amor" - das war ein gebürtiger Ostwestfale und Berliner Student der Kunstgeschichte, mit starker Italiensehnsucht. Paul firmiert nun als gebürtiger Niedersachse aus Braunschweig-Gliesmarode, er hat in Berlin Geschichte studiert, und es zieht ihn heftig nach Spanien. Aktuell ist der Wahl-Kreuzberger mit Warten beschäftigt: Im Berlin der achtziger Jahre muss der künftige Lehrer für einen Referendariatsplatz drei Jahre anstehen.
Von diesem jungen Mann kann man nicht erwarten, dass er sein Kreuzberg wie ein Herr Lehmann zelebriert. Regeners alternativem Heimatroman steht bei Treichel, der mit einer Erzählung über ein generationsübergreifend nachwirkendes Flucht-Trauma berühmt wurde ("Der Verlorene"), die melancholische Beschwörung der Heimatlosigkeit gegenüber. Auch Paul ist ein Flüchtling - ganz dringend musste er die Gliesmaroder Provinzjugend hinter sich lassen. Aber auch am Kottbusser Tor wird er nicht heimisch. Leben im inneren Widerstand: Beim Verfertigen eines Referats über "Vormoderne Lebenswelten" fühlt er sich in seiner kleinen Hinterhofwohnung von türkischer Musik belästigt. Kebabträume in der Mauerstadt? Lieber nicht. Besonders lästig ist die Abluftanlage der türkischen Bäckerei im Erdgeschoss, denn sie entlässt den Schmalzgebäckgeruch direkt vor Pauls Fenster. Als er den Bäcker aufsucht, um sich zu beschweren, umarmt der ihn und lädt ihn für Sonntagnachmittag zum Familienbesuch ein - woraus sich ein erzählerisches Kabinettstück ergibt.
Am liebsten würde Paul ganz auf die Pfaueninsel umziehen. Das Beste an Berlin und Umgebung sind für ihn die mediterranen Halluzinationen und Imitationen, wie die Sacrower Heilandskirche mit ihrem Campanile, Preußens Arkadien. Zu romantischen Spaziergängen verabredet er sich am Grunewaldsee, einem urinduftenden Hundeauslaufgebiet, umrauscht von der nahen Avus - aber mit Sonnenuntergängen wie in Granada.
Nebenbei lernt Paul Spanisch. Daraus ergibt sich die Chance zum Ausbruch. In Málaga wird dringend eine Hilfskraft gesucht, die Deutsch für Anfänger unterrichtet. Paul macht sich auf die Reise; in einer Dozenten-WG findet er ein winziges, fensterloses Zimmer - so unzumutbar, dass sich bald die schöne María seiner annimmt und ihn im Landhaus ihres Onkels einquartiert, einem pensionierten Capitán der Guardia Civil. Handelt es sich womöglich um einen alten Franco-Faschisten? Die Frage gibt Paul, der in seiner Kreuzberger Küche das "Guernica"-Poster hängen hat, viel zu denken, zumal seine eigene Familie "auf Hausmeisterebene" ins Dritte Reich verstrickt war. Wie auch immer, eines wunderbaren Morgens, als der Onkel nicht da ist, schleicht sich María ins Haus und wird anschmiegsam - Paul kann sein Glück kaum fassen. Bald darauf sind sie ein Liebespaar, treffen sich regelmäßig auf einer abgelegenen Obstwiese und frönen herrlich enthemmt dem faunischen Sex. Das hat nichts mehr zu tun mit jenem "sozialpartnerschaftlichen", gewissermaßen von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft abgesegneten Liebesspiel, wie es Paul bisher mit Berliner Studentinnen kannte. Es ist das Glück; das "Angstgewicht" seiner Existenz hat sich spürbar verringert.