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: Am Bloggen soll die Welt genesen

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Jeff Jarvis, amerikanischer Journalist und Medienprofessor, hatte einen Moment der Erleuchtung. Er kam ihm, als er in seinem Blog den Kundendienst der Computerfirma Dell mit derben Worten kritisierte.

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          Jeff Jarvis, amerikanischer Journalist und Medienprofessor, hatte einen Moment der Erleuchtung. Er kam ihm, als er in seinem Blog den Kundendienst der Computerfirma Dell mit derben Worten kritisierte. Seine Beschwerde, über Google vervielfältigt, fand überwältigenden Widerhall in der Blogosphäre. Dell musste sich dem Druck der Blogger beugen, versprach, künftig besser mit seinen Kunden umzugehen, und integrierte Blogs in seinen Kundendienst. Dank Google, erkannte Jarvis, können Unternehmen die Anliegen ihrer Kunden nicht mehr ignorieren. Die Welt wäre also eine bessere, wenn sie nach dem Transparenzprinzip von Google eingerichtet und unter den Herrschaftsanspruch des Verbrauchers gestellt würde. Darüber schrieb er ein Buch.

          Was seltsam ist, denn Bücher sollen in der Zukunft, die er beschreibt, eigentlich keine Rolle mehr spielen. Sie sind ihm eine überkommene Form, genauso wie Verleger, Immobilienmakler und alle übrigen Vermittlungsinstanzen, die in der vordigitalen Medienepoche intransparente Informationslagen ausnutzten, um Kunden über den Tisch zu ziehen. Gegen sie startet Jarvis einen Vernichtungsfeldzug. Wo er sie nicht abschaffen will, müssen sie zumindest umgestaltet werden.

          Das Allheilmittel gegen jede Form arroganter Herrschaftspraxis ist ihm das Bloggen. Als Blogger könne sich jeder Einzelne von einer vereinheitlichenden Massenindustrie emanzipieren und ihr seine individuellen Bedürfnisse diktieren. Kluge Unternehmen sähen dies als Chance und beteiligten den bloggenden Kunden am Produktionsprozess. Aus Massenproduktion würde so individuelle Fertigung und ein belebender Ideenaustausch von Produzent und Kunde hervorgehen.

          Dieses Prinzip dekliniert Jarvis in fast allen Lebensbereichen durch. Dem Kunden im Restaurant sollte beispielsweise schon vor der Bestellung eine Liste mit den meistgewählten Gerichten zur Verfügung stehen, damit er die lokale Spezialität leicht erkennen könne. Mit dem Koch würde er sich über Rezepte und individuelle Vorlieben austauschen, auf die der Koch, der einen Blog betreibt, gerne eingeht. Der selbstverständlich bloggende Arzt stünde mit seinen Patienten in permanentem Meinungsaustausch. Andere Wirtschaftszweige wie Versicherungen, Banken und Publizistik würde die Masse gleich mehr oder weniger selbst übernehmen. Der Journalismus würde in die Hand des bloggenden Bürgers übergehen. Die Informationen gäbe es umsonst, wer die Selektionskriterien, die Qualitätskontrolle und die Haftung für das Publizierte übernimmt, bleibt offen, auch für den Lebensunterhalt der Publizisten interessiert Jarvis sich wenig. Die Devise über allem lautet: Blog oder stirb.

          Als Korrektiv verstanden, mögen solche Forderungen berechtigt sein. Jarvis will jedoch über die Anpassung der Reklamationsabteilung an digitale Bedingungen hinaus und den Kunden zum allgegenwärtigen Mitmacher erheben. Nun spielt der Mensch in seinem Leben viele Rollen, mal findet er sich auf Produzenten-, mal auf Konsumentenseite wieder. An beiden Fronten mutet Jarvis ihm einiges zu. Wie soll der Herstellungsprozess aussehen, wenn der Produzent zur permanenten Änderung gezwungen ist? Wie soll ein Produkt reifen, wenn ständig jemand dazwischenquatscht?

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