„Verfassungsidentität“ und „öffentliche Macht“ in Russland
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Wladimir Putin bei einem Telefonat mit der Arbeitsgruppe zur Verfassungsänderung am 3. Juli 2020. Bild: AP
Die Verfassungsreform ist mehr als ein Instrument zur Sicherung von Putins Herrschaft. Sie soll Identität stiften und internationaler Einflussnahme vorbauen. Ein Gastbeitrag.
Mit zehn Wochen Verspätung wurde in Russland am 1. Juli über die im Januar angekündigte Verfassungsreform abgestimmt. Für den Kreml war das Datum so wichtig, dass Präsident Putin sogar landesweit einen arbeitsfreien Tag ausrufen ließ. Den ursprünglichen Termin vom 22. April hatte er in letzter Minute wegen der Corona-Krise absagen müssen. Bisher stand bei diesem Projekt die Frage im Vordergrund, welche Optionen Putin nach dem Ende seiner Amtszeit 2024 zur Verfügung stehen. Die erneuerte Verfassung hält im Wesentlichen drei Möglichkeiten bereit: Präsident bis 2036, Vorsitzender eines neu definierten Staatsrats, Rücktritt mit Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung. Allerdings ist die Regelung von Putins persönlicher Zukunft weder das interessanteste noch das wichtigste Thema der Verfassungsreform. Das eigentliche Ziel geht weit darüber hinaus: Das "russländische Volk" soll mit einer "Verfassungsidentität" ausgestattet und in ein "einheitliches System der öffentlichen Macht" (Art. 132, 3) eingebettet werden. Damit löst die Verfassungsreform eine Ankündigung ein, die aus dem Jahr 2012 stammt. Damals skizzierte Putin ein ambitioniertes Stabilisierungsprojekt und wollte ein "russländisches Staatsvolk mit russischem Kulturkern" schaffen.
Eine Verfassung war in Russland immer mehr als eine Verfassung. Es ging nicht einfach um die Regelung der Kompetenzen der staatlichen Gewalten, sondern um ein Narrativ, das den Staat definiert und zusammenhält. Allerdings verließen sich die Zaren lange Zeit auf andere Herrschaftsmythen: Katharina die Große inszenierte sich als Minerva, Nikolaus I. als Vater der Nation, Alexander II. als Befreier. Die Verfassung war in der Geschichte des Zarenreichs eher eine Gefahr als eine ernsthafte Zukunftsvision. Man mag darüber nachdenken, ob die rechtzeitige Einführung einer konstitutionellen Monarchie Russland vor den Revolutionen des Jahres 1917 bewahrt hätte. Zumindest Lenin beantwortete diese Frage eindeutig. Seine Devise lautete: Je schlechter, desto besser. Je schlechter es um die staatsbürgerlichen Rechte im Zarenreich bestellt war, desto besser standen die Chancen für eine radikale Umwälzung.
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