Die Schattenseite des Vertrauens
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Schild am höchsten norwegischen Gericht in Oslo, 23. Mai 2018. Bild: Reuters
Jahrelang wurden Sozialhilfeempfänger in Norwegen zu Unrecht sanktioniert und sogar zu Haftstrafen verurteilt. Behörden und Gerichte wendeten Gesetze sehenden Auges falsch an. Wie konnte es dazu kommen?
Anfang November gab die norwegische Agentur für Arbeit und Soziales (NAV) bekannt, eine Regelung bezüglich des Anspruchs auf Pflege-, Kranken- und Arbeitslosengeld (Pleie-, syke- und arbeidsavklaringspenger) jahrelang systematisch falsch und im Widerspruch zu inkorporiertem europäischem Recht angewandt zu haben. Daraus ist die schwerste Krise des norwegischen Rechtsstaats in der Nachkriegszeit geworden, weil der Fehler weder vom Gesetzgeber, noch den Gerichten, der Anwaltschaft oder der Rechtswissenschaft aufgedeckt wurde. Die Folge: bis zu 2400 Personen wurden von der Arbeitsagentur fälschlich zur Rückzahlung von Sozialleistungen, oft in Höhe von mehreren Zehntausend Euro verpflichtet und verloren gleichzeitig diese Ansprüche teilweise oder ganz für die Zukunft. Damit nicht genug, in vielen Fällen hat die Agentur Anzeige erstattet. Nach derzeitigen Erkenntnisstand sind 48 Personen zu Unrecht wegen schwerem Sozialversicherungsbetrug verurteilt worden, davon 36 zu Gefängnisstrafen ohne Bewährung. Und das nur, weil sie von ihrem Recht zu Personenfreizügigkeit Gebrauch gemacht haben, während sie Leistungen in Norwegen bezogen. Weder die Staatsanwälte noch die Verteidiger der Angeklagten oder die Richter bis hin zum obersten Gerichtshof des Landes (Høyesterett) haben reagiert. Die Rechtsauffassung der Agentur wurde unkritisch übernommen. Diese findet ihrerseits Stütze im norwegischen Sozialversicherungsgesetzes (Folketrygdeloven). Der Anspruch auf solche Sozialversicherungsleistungen ist im Gesetz an den Aufenthalt im „Lande“ gekoppelt. Wer sich gleichwohl längere Zeit in einem Mitgliedsland des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) aufhielt, ohne vorher die Genehmigung von NAV einzuholen (die laut Gesetz nur ausnahmsweise und nur für kürzere Zeiträume gewährt werden kann), dem konnte dies als schwerer Sozialversicherungsbetrug zur Last gelegt werden: Strafrahmen Freiheitsentzug bis zu sechs Jahre (§§ 371 straffeloven).
Klare Anhaltspunkte für die Unvereinbarkeit des Sozialversicherungsgesetzes mit dem Grundsatz der Personenfreizügigkeit lagen aber spätestens mit der Inkorporation der Europäischen Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vor, die am 1. Juni 2012 in Norwegen in Kraft trat. Gemäß Art. 21 Abs. 1 darf das Recht auf Sozialleistungen nicht automatisch entfallen, weil sich der Empfänger in einem anderen EWR-Land aufhält. Die völkerrechtliche Pflicht, diese Grundfreiheit zu respektieren, hat Norwegen bereits durch seinen Beitritt zum EWR-Abkommen im Jahre 1994 anerkannt. Nun kann man darüber streiten, ob aus dieser völkerrechtlichen Verpflichtung eine Pflicht zur europarechtskonformen Auslegung des norwegischen Sozialversicherungsgesetzes folgt. Mit dem Gesetz zur Inkorporation der EU-Sozialversicherungsverordnung war dieser Zweifel jedenfalls ausgeräumt, oder hätte es sein müssen. Dass das neue Gesetz die Möglichkeit zum ‚Sozialleistungsexport‘ eröffnen würde, hatte bereits eine Gesetzgebungskommission erkannt. Eine Änderung des Sozialversicherungsgesetzes erfolgte gleichwohl nicht. Die Folge: Agentur, Staatsanwaltschaften und Strafgerichte ignorierten die Verordnung bis Ende Oktober 2019, obgleich Sozialgerichte bereits 2017 und 2018 die Unvereinbarkeit der Verwaltungspraxis mit der Verordnung angemahnt und einzelne Bescheide aufgehoben haben.
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