: Die Chancen der regionalen Versorgung nutzen
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Mehr als ländliche Idylle: Regionale Versorgungsstrukturen bieten attraktive Ansätze, die die Bevölkerung möglichst lange gesunderhalten wollen. Bild: Dominik Richter/AdobeStock
Weg von einer zentralistischen, hin zu einer regionalen Versorgung: Erste Umsetzungen dieses Konzepts sind bereits erfolgreich angelaufen, und neue Modelle finden sich im Koalitionsvertrag. Das eröffnet zahlreiche Möglichkeiten für Prävention und Gesundheitserhaltung.
Gestehen wir es uns ein: Die herkömmlichen Geschäftsmodelle im Gesundheitswesen haben viele Fortschritte möglich gemacht, aber sie sind verbraucht, werden von vielen abgelehnt und taugen nicht mehr für die Zukunft. Junge wie alte Ärzte fordern „Rettet die Medizin“ und wollen das Fallpauschalensystem im Krankenhaus ersetzt oder zumindest grundlegend reformiert sehen. Dringend benötigte Pflegekräfte verlassen enttäuscht den Beruf und klagen über Unterbesetzung und viel zu knappe Zeitbudgets. Bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein reicht die Ablehnung privatwirtschaftlichen Unternehmertums im Pflege- und Krankenhausbereich, Ähnliches beginnt sich für Arztpraxen als Teil von investorengetriebenen MVZ-Kettenmodellen zu entwickeln.
Verbesserung der Gesundheit wird belohnt
Da kommt eine neue Diskussion über Geschäftsmodelle, die die Gesundheitsproduktion belohnen, vielleicht gerade recht. Berichte aus anderen Ländern und Gesundheitssystemen weisen auf die grundlegenden Vorteile solcher Modelle hin, die dann oft auch Capitation- oder Kopfpauschalen-Lösungen genannt werden. Eine Regionale Integrationseinheit erhält in diesem Fall eine Pro-Kopf-Pauschale für die gesamte stationäre wie ambulante und pflegerische Versorgung einer Bevölkerung, zum Beispiel nach Alter und anderen Faktoren adjustiert. Wenn diese Integrationseinheit, nennen wir sie den Integrator – in der Diskussion der Ecosystems werden solche Einheiten gern auch als Orchestratoren bezeichnet –, es schafft, durch zielgerichtete Prävention Krankheitssituationen und damit Kosten zu vermeiden, ist das zu ihrem Vorteil – und zu dem der Bevölkerung. Ersetzt der Integrator kostenintensive stationäre Leistungen erfolgreich durch preiswertere ambulante Behandlungen, bringt das ebenfalls ihm und den Patienten einen Benefit. In der spanischsprachigen Welt gibt es einige solcher Lösungen, die sehr interessante Ergebnisse zu berichten haben.
In Deutschland mit seiner Vielfalt von einzelunternehmerischen Leistungserbringern auf ambulanter wie stationärer ärztlicher, pflegerischer und physiotherapeutischer Seite wurde mit Start zum November 2005 und einem Bestehen von inzwischen mehr als 16 Jahren eine spezifische Variante solcher Capitation-Lösungen entwickelt. Für die Versicherten der AOK Baden-Württemberg und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau im Kinzigtal in Südbaden hat die Gesundes Kinzigtal GmbH als Integrator eine virtuelle Budgetmitverantwortung übernommen. Wenn diese GmbH es schafft, die Kostenentwicklung der Versicherten für alle Sektoren der Versorgung unterhalb des üblichen Kostenwachstums zu halten und damit der Krankenkasse einen Deckungsbeitragsertrag zukommen lässt, dann erfährt sie im Nachhinein eine Bonifizierung als Anteil an dem erreichten Gewinn der Kassen. Die Versicherten entscheiden dafür frei, bei wem und wo sie sich ihre Leistungen holen. Auch die Leistungserbringer können wählen, ob sie sich der Lösung anschließen oder nicht. In beiden Fällen bekommen sie ihr Geld weiter nach den üblichen Regeln. Abgerechnet wird dann im Nachhinein zwischen den Krankenkassen und der GmbH. Im Effekt kommt das dem oben diskutierten Modell sehr nahe. Der Integrator, hier die Gesundes Kinzigtal GmbH – weitere Lösungen gibt es auch in Nordhessen mit der Gesunder Werra-Meißner Kreis GmbH und der Gesunder Schwalm-Eder-Kreis plus GmbH –, hat damit das Interesse, die Bevölkerung in der Region möglichst erfolgreich gesund zu erhalten beziehungsweise Erkrankungen wenn möglich ambulant zu versorgen, aber bei stationärer Leistungsbedürftigkeit dann effizient in dem besten dafür geeigneten Krankenhaus behandeln zu lassen.
Zentralistisches Konzept nicht mehr zeitgemäß
Eine Gruppe von Gesundheitsexperten hat im vergangenen Jahr – auch motiviert durch die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie – vorgeschlagen, dieses Modell zum Vorbild für ein Konzept zu verwenden, wie die überwiegend zentralistische Betrachtung von Gesundheit wieder stärker durch eine Verantwortungsübernahme auf der regionalen Ebene ausbalanciert werden kann. Eine Reihe dieser Vorschläge findet sich wieder in dem Ampelkoalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Hiernach sollen der Abschluss bevölkerungsbezogener Versorgungsverträge in Gesundheitsregionen erleichtert, Gesundheitskioske in sozialen Brennpunkten entwickelt und die interprofessionelle Zusammenarbeit verbessert werden.
Innovative Gesundheitsregionen, so die Bezeichnung des Konzeptes der Experten, sind Landkreise oder Stadtbezirke, für deren Bevölkerung jeweils ein eigener Vertrag zwischen möglichst allen Krankenkassen und einer lokalen, für die Gesundheitsversorgung verantwortlichen Gesellschaft geschlossen wird. Wegen der Übersichtlichkeit und der Steuerungsfähigkeit geht es um Größenordnungen von circa 100 000 bis 200 000 Menschen. Der Vertrag soll die Regionalen Integrationseinheiten durch die Art der Vergütung dazu anhalten, im Verbund mit den lokalen Gesundheitsakteuren die Bevölkerung bestmöglich in ihrer Gesundheit und Versorgung zu unterstützen.
Die Regionalen Integrationseinheiten sollen deshalb, anders als die heutigen Leistungserbringer im Gesundheitswesen, nicht für die Anzahl von Leistungen, sondern für das Ergebnis, also für den erzeugten Gesundheitsnutzen, wirtschaftlich belohnt werden.
Aktive Unterstützung von Präventionsangeboten
Folgende Benefits werden in einer solchen Umkehr des Geschäftsmodells möglich: Für die lokalen Kommunen und Landkreise bestünde der Vorteil, dass ein regionaler Interessent für die Produktion von Gesundheit den öffentlichen Gesundheitsdienst in Prävention und Gesundheitsförderung aus eigenem Interesse heraus aktiv unterstützen wird. Außerdem finden die lokalen Betriebe einen Partner für eine aktive Unterstützung von betrieblichem Gesundheitsmanagement. Die Beitragssätze für die Krankenkassen können stabilisiert werden beziehungsweise steigen zumindest auf längere Sicht nicht in dem Maße, wie aktuell befürchtet werden muss. Für die Innovatoren, ob aus dem digitalen, medizin-technischen oder pharmazeutischen Bereich, bringt eine solche Regionale Integrationseinheit einen Interessenten mit sich, der ihre Innovationen zugunsten eines höheren Gesundheitsbenefits für die Bevölkerung aus eigenem Interesse aktiv unterstützen wird. Zu guter Letzt entsteht für die Bürger der Region ein höheres Maß an Versorgungssicherheit, da der Integrator aus eigenem Interesse heraus dafür Sorge tragen muss, dass das richtige Maß an lokaler Versorgung bereitsteht, da ansonsten die aufwendigen Kosten von beispielsweise Notarzteinsätzen indirekt mit zu seinen Lasten gingen.
Vielleicht lässt sich damit auch ein nachhaltiges neues privatwirtschaftliches Unternehmertum entwickeln, das durch sein Geschäftsmodell bereits auf die Produktion von Gemeinwohl ausgerichtet ist. Social Entrepreneurship at its best.
Dr. rer. medic. h. c. Helmut Hildebrandt ist Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG und war Ko-Vorsitzender der Gesundheitspolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung.