: „Wir sind es den Patienten schuldig, medizinische Innovationen umzusetzen“
Kann ein Betroffener nach der Diagnose Krebs zuversichtlich in die Zukunft blicken? Doch sogar in Deutschland ist nicht überall eine bestmögliche Behandlung verfügbar. Bild: Leonid Tit/Adobestock
Der Weg von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms bis zur heute eingesetzten personalisierten Krebstherapie war lang. Daraus entstanden die molekular gesteuerten Therapiekonzepte der personalisierten Medizin, die in jüngster Zeit einen gewaltigen Zuwachs erleben. Nun bedarf es struktureller Änderungen, damit diese hochwirksamen Behandlungen umfänglich zu den Patienten gelangen.
Als Craig Venter und Francis Collins im Jahr 2000 in einer legendären Pressekonferenz in Anwesenheit des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton die Entschlüsselung des ersten menschlichen Genoms bekanntgaben, lag ein beispielloser globaler Kraftakt mit über 1000 Kollegen hinter ihnen. Es folgte eine Revolution in der Genomsequenzierung: Immer schneller und preiswerter konnten die Genome von normalen Zellen und Krebszellen entschlüsselt und analysiert werden. Dieses Wissen ermöglichte ein tieferes Verständnis von Krebs als einer Krankheit des Genoms. Spezifische molekulare Veränderungen, sogenannte Treibermutationen, sind für das bösartige Wachstum verantwortlich und können mit neuen, zielgerichteten Medikamenten blockiert werden. Auch wenn diese personalisierten, auf die genomischen Eigenschaften der Tumoren zugeschnittenen Krebstherapien erst am Anfang stehen, zeigen sie schon beeindruckende Erfolge.
Personalisierte Krebstherapie verlängert das Überleben
Lungenkrebs beispielsweise ist noch immer die häufigste Krebstodesursache. Über Jahrzehnte war für die meisten Patienten die Chemotherapie die einzige medikamentöse Therapie mit enttäuschenden Ergebnissen: Tumorrückgang nur bei jedem vierten Patienten, mittlere Überlebenszeit ein Jahr. Mit der personalisierten Therapie eröffnen sich andere Perspektiven: Bei etwa 30 Prozent der Patienten konnte man bisher Treibermutationen charakterisieren, die zielgerichteten Therapien zugänglich sind. Diese ermöglichen zwar keine Heilung, aber fast immer eine Kontrolle des Tumorwachstums, das den Betroffenen mittlere Überlebenszeiten von fünf und mehr Jahren bei zumeist guter Lebensqualität und erhaltener Arbeitsfähigkeit ermöglicht. Die Entwicklung verläuft dynamisch, in rascher Folge werden neue personalisierte Therapien zugelassen. Auch die Mechanismen der Resistenz werden zunehmend auf der genomischen Ebene verstanden und ermöglichen gezieltere Folgetherapien. Die Lungenkrebserkrankung wandelt sich so von einer akut tödlichen Bedrohung zu einer chronischen Erkrankung. Für immer mehr Krebserkrankungen werden aktuell solche molekular geführten, personalisierten Therapien entwickelt.
Unzureichende Umsetzung kostet Tausende von Lebensjahren
Eine gute Nachricht für die Patienten, sollte man meinen. Aber so einfach ist es nicht. Eine erfolgreich entwickelte neue Therapie ist die eine Seite, sie allen betroffenen Patienten verfügbar zu machen, die andere. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass bei einem beträchtlichen Anteil von Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs erst gar nicht auf alle relevanten Mutationen getestet wird und dass eine Testung nicht automatisch eine zielgerichtete Therapie nach sich zieht. So gehen in Deutschland allein bei Lungenkrebs Tausende von Patientenlebensjahren jährlich verloren, weil die Innovation nicht ihren Weg zum Patienten findet. Wie kann das sein in so einem ausdifferenzierten, leistungsfähigen und teuren Gesundheitssystem?
Die Implementierung molekular gesteuerter Therapien in die Praxis erfordert die Durchführung einer komplexen Diagnostik, bei der modernste Gensequenzierungsverfahren bereits vor der Therapie eingesetzt werden, sowie die fachkundige Interpretation der Ergebnisse und umfassende Erfahrungen mit diesen Therapien. In Deutschland werden Krebspatienten in über 1600 Krankenhäusern und über 600 onkologischen Praxen behandelt, viele Patienten wechseln zwischen mehreren Behandlern, und die meisten Onkologen behandeln im klinischen Alltag eine Vielzahl von Krebserkrankungen. Die neuesten Analysetechnologien vorzuhalten und ihre Ergebnisse auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu deuten ist für die Mehrzahl der praktisch tätigen Onkologen kaum mehr möglich. Will man die gewachsenen und leistungsstarken Strukturen einer flächendeckenden medizinischen Versorgung in Deutschland erhalten und gleichzeitig allen Patienten den frühen Zugang zu Innovationen ermöglichen, so erfordert dies eine neue Arbeitsteilung zwischen forschungsnahen spezialisierten Zentren und Versorgern in der Breite.
Netzwerke verbinden spezialisierte Zentren und Ärzte vor Ort
Das nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) Lungenkrebs ist ein Beispiel für eine erfolgreiche arbeitsteilige Vernetzung in der Versorgung von Patienten mit fortgeschrittener Lungenkrebserkrankung, unterstützt von der Deutschen Krebshilfe und den Krankenkassen. Krankenhäuser und onkologische Praxen können von ihren Patienten Tumorgewebe und einen klinischen Basisdatensatz an eines von aktuell 17 zumeist universitären onkologischen Spitzenzentren schicken. In diesen findet eine zentralisierte und qualitätsgesicherte molekulare Diagnostik unter Einsatz modernster Gensequenzierungsverfahren statt, eine deutschlandweit harmonisierte Auswertung hinsichtlich der Therapieempfehlung, die auch die Empfehlung zur Teilnahme an einer klinischen Studie enthalten kann, und eine zentrale Evaluation. Die meisten Patienten können dann heimatnah in einem Krankenhaus oder einer onkologischen Praxis behandelt werden. Das Netzwerk erfasst aktuell über 10 000 Patienten jährlich mit steigender Tendenz, das entspricht etwa einem Drittel der hierfür in Frage kommenden Patienten. Aktuelle Veröffentlichungen belegen den immensen Überlebensgewinn durch die personalisierten Therapien. Weitere Beispiele für erfolgreiche Netzwerkbildungen im Bereich der genomischen Krebsmedizin sind das Netzwerk für Familiären Brust- und Eierstockkrebs und das MASTER-Programm zur Genomsequenzierung therapieresistenter Tumore des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK).
Erfolgreiche Zusammenarbeit bedarf der digitalen Vernetzung
Solche Netzwerke zeigen paradigmatisch, wie mit einer neuen Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Zentren und Versorgern in der Breite auch in einem heterogenen, sektoral getrennten und von zahlreichen Partikularinteressen getriebenen Gesundheitssystem ein effektiver Innovationstransfer erfolgen kann. Und doch bleiben diese neuen Strukturen noch deutlich unter ihren Möglichkeiten. Warum? Erst eine Erfassung der spezifischen Wirksamkeit der neuen Substanzen und der Lebensqualität der Patienten über den gesamten Therapieverlauf bei oft wechselnden Behandlern hinweg würde es erlauben, die Versorgung hinsichtlich eines begründeten und ökonomischen Einsatzes personalisierter Krebstherapien zu steuern. Die Patienten könnten in diese Datensammlung unmittelbar einbezogen werden und ihrerseits Zugriff auf diese Informationen erhalten – ein wichtiger Schritt hin zur Patientenautonomie.
Die Voraussetzungen dafür hat die Digitalisierung geschaffen: die Möglichkeiten zur integrierten Auswertung gewaltiger Datenmengen und zur Anwendung Künstlicher Intelligenz erscheinen unbegrenzt. Jedoch kann ein großer Teil der Daten im deutschen Gesundheitssystem hierfür nicht genutzt werden, weil Daten unvollständig digitalisiert werden sowie Interoperabiliät und eine bundesweit einheitliche Struktur für die Datenerfassung fehlen. Zudem erschweren die überbordenden Datenschutzbestimmungen die Nutzung der Daten. Gerade hier wird oft vergessen, dass nicht nur der Datenschutz ethisch geboten ist, sondern dass wir den Patienten gegenüber auch zur Auswertung der von ihnen zur Verfügung gestellten Daten zu ihrem Nutzen verpflichtet sind. Der Handlungsbedarf hier ist bei weitem nicht auf die Onkologie beschränkt; er ist in den vergangenen Monaten deutlich geworden, als es darum ging, mit Covid-19 infizierte Patienten zentral zu erfassen und eine Tracing-App einzusetzen.
Die atemberaubenden Entwicklungen in Genomik und Digitalisierung können – synergistisch angewendet – die Krebstherapie enorm verbessern. Wir sind es unseren Patienten schuldig, diese Innovationen in die klinische Praxis umzusetzen. Notwendig dafür ist eine neue medizinische Infrastruktur, die die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzt, um alle an Diagnostik und Therapie beteiligten Partner mit den Patienten zu verbinden. Nur dann können eine Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Zentren und versorgenden Ärzten in der Breite erfolgen und die Patienten von den verfügbaren Innovationen profitieren.
Professor Dr. med. Jürgen Wolf ist Ärztlicher Leiter des Centrums für Integrierte Onkologie am Universitätsklinikum Köln und Sprecher des nationalen Netzwerks Genomische Medizin.
Der Weg zur bestmöglichen Krebstherapie
Ein Medikament für alle Patienten – dieses Szenario ist Vergangenheit. Längst bahnt sich die individuelle Krebstherapie ihren Weg zu den Patienten. Das Ziel ist es, für jeden die optimale Behandlung zu finden. Doch dafür braucht es wichtige Schritte sowie zwingend den Zugang zu einem interdisziplinären und exzellenten Tumorboard, das als zentrale Schaltstelle agiert. Von Miriam Sonnet.
Prävention, Früherkennung und familiäre Vorbelastung
Bis zu 70 Prozent aller Krebstodesfälle könnten durch Primärprävention und Früherkennung verhindert werden. Es gilt daher, Risikofaktoren stärker zu meiden und Früherkennungsprogramme besser zu nutzen. Ein Tumor kann aber auch durch Veränderungen in der DNA entstehen, die an die Nachkommen vererbt werden. So finden sich in der Familie von knapp einem Drittel aller Brustkrebspatientinnen weitere Fälle von Brust- oder Eierstockkrebs. Bei etwa einem Viertel liegt eine Mutation in den Genen BRCA1 oder BRCA2 vor. Auch Darmkrebs kann erblich bedingt sein. Betroffene können sich in einem spezialisierten Zentrum beraten und testen lassen. Ist der Gentest positiv, haben sie die Möglichkeit, an früheren beziehungsweise intensivierten Präventionsprogrammen teilzunehmen. Bei Brustkrebs kommt manchmal sogar eine vorbeugende Operation in Frage.
Onkologische Spitzenzentren: Versorgung auf höchstem Niveau
Die zentrale Schaltstelle, in der Forschung, Diagnostik, Therapie und Psychoonkologie zusammentreffen, sind onkologische Spitzenzentren. Vereint werden sie unter dem Dach des „Comprehensive Cancer Center“-Netzwerks. Ihr Ziel ist es, Krebspatienten die bestmögliche Diagnostik und Therapie auf dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens zu bieten. Die Zentren vereinigen Experten unterschiedlicher Disziplinen unter einem Dach. Das macht es möglich, neue Erkenntnisse schnell zum Patienten zu bringen. Die optimale Behandlung wird in Tumorkonferenzen diskutiert und daraufhin individuelle Therapiekonzepte erstellt. Das bietet den Betroffenen während der gesamten Therapie die bestmögliche Unterstützung.
Molekulare Diagnostik als Basis für individuelle Therapie
Neue diagnostische Methoden sind Grundlage für zielgerichtete und individuelle Therapien. In den vergangenen Jahren gewannen molekularpathologische Tests bei zahlreichen Krebsarten eine immer größere Bedeutung. Dabei untersuchen Forscher Blut oder Gewebeproben auf Biomarker, die Auskunft über den Krankheitsverlauf geben oder darüber, wie gut ein Patient auf eine bestimmte Therapie anspricht. Biomarker können zum Beispiel Bausteine von Krebszellen, deren Stoffwechselprodukte oder bestimmte Gene sein. Auch Proteine oder ganze Zellen können als Biomarker dienen. Ein Beispiel ist das karzinoembryonale Antigen (CEA). Es wird vor allem bei Patienten mit Dick- und Enddarmkrebs bestimmt und ist wichtig für Prognose, Therapiekontrolle und Nachsorge.
Zielgerichtet gegen den Krebs
Sind die zugrundeliegenden Gendefekte bekannt, können Ärzte die Behandlung gezielt darauf ausrichten. Bei zahlreichen Krebsarten wie Brust-, Darm-, oder Lungenkrebs kommen diese zielgerichteten Therapien bereits zum Einsatz. Auch die Verlaufskontrolle wird individuell gestaltet. Möglich machen dies Tumormarker – sie steigen häufig an, wenn der Krebs nach einer zunächst erfolgreichen Therapie zurückkehrt. Dank digitaler Technologien wird es zukünftig möglich sein, die medizinische Versorgung immer individueller zu gestalten.
Unterstützung für die Zeit danach
Nach abgeschlossener Therapie erhalten Krebspatienten eine fortlaufende Betreuung mit medizinischen und psychosozialen Maßnahmen. Diese Nachsorge dient dazu, Betroffene zu unterstützen, und sie wird so lange fortgeführt, bis das Risiko für einen Rückfall gesunken ist. Da die verschiedenen Aspekte bei verschiedenen Patienten ganz unterschiedlich ausfallen, erhält jeder im Idealfall ein individuelles Nachsorgeprogramm, das an die eigentliche Krebsbehandlung anschließt. Unterschieden wird die Nachsorge von Rehabilitationsmaßnahmen, die dazu dienen, den Erfolg der Behandlung und die soziale und berufliche Wiedereingliederung zu sichern. Sie umfassen neben medizinischen Leistungen zum Beispiel eine psychoonkologische Beratung, Physiotherapie, Ernährungsberatung sowie Unterstützung im Umgang mit Problemen, die durch die Krankheit oder die Therapie aufgetreten sind.