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Verlagsspezial

: Seltene Nierenerkrankungen besser versorgen

Bild: Crystal-light/Adobestock

Meist müssen Patienten mit einer seltenen Nieren­erkrankung weite Wege auf sich nehmen, um einen Experten und damit eine geeignete Therapie zu finden. Umso wichtiger ist es für die ­Versorgung, heimatnahe Strukturen zu etablieren.

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          Covid-19 beleuchtet einige lange bekannte Probleme im Gesundheitssystem wie ein Brennglas: es wird zunehmend klar, dass die Pandemie kein großer Gleichmacher ist, sondern bereits vorher benachteiligte Gruppen besonders hart trifft – so auch Patienten mit seltenen Erkrankungen. Deren Versorgung bedarf einer spezialisierten interdisziplinären Expertise, die sich in der Regel nur in Krankenhäusern der Maximalversorgung und an Universitätsklinika findet. Die Schaffung des Nationalen Aktionsbündnisses für Seltene Erkrankungen (NAMSE) und die Gründung von Zentren für Seltene Erkrankungen waren wichtige Schritte, um Betroffenen eine jahrelange Odyssee bis zur Diagnose zu ersparen und eine optimale Betreuung zu gewährleisten. Allerdings ist die Finanzierung dieser Versorgungsstruktur ein weiterhin nur unzureichend gelöstes Problem.


          Regionale Versorgung muss gefördert werden

          Der hierbei gewählte zentralisierte Ansatz ist prinzipiell sinnvoll, um die medizinische Expertise zu bündeln. Er geht jedoch oftmals mit dem Nachteil langer Anfahrten einher. Dies wird in Pandemiezeiten besonders deutlich. Die Patienten sind aufgrund vieler Kontakte im Krankenhaus sowie während der An- und Abreise einer erhöhten Sars-CoV-2-Infektionsgefahr ausgesetzt. Dieser Umstand ist kaum akzeptabel, da die Betroffenen häufig ohnehin – sei es aufgrund der Erkrankung oder der Auswirkung der Therapie – ein erhöhtes Infektionsrisiko haben. Ein sinnvoller Lösungsansatz wäre es, die regionale Versorgung zu verbessern. Diese erfordert eine enge Zusammenarbeit von Hausärzten, niedergelassenen Fachmedizinern und Ambulanzen. Bausteine dieser Versorgung sollten gemeinsame Beratungen über Videosprechstunden ebenso beinhalten wie die Möglichkeit, Medikamente heimatnah oder häuslich zu verabreichen. Letzteres erfolgt selbst nach gestellter Diagnose und ausgearbeitetem Behandlungsplan häufig durch den Experten und meist ausschließlich im Zentrum. Integrierte Versorgungskonzepte sind weiterhin Mangelware, insbesondere in der Erwachsenenmedizin.

          Wie könnte also in Zukunft eine sinnvolle wohnortnahe, integrierte Versorgung aussehen? Anhand eines Beispiels aus dem Gebiet der seltenen erblichen Nierenerkrankungen, dem atypischen hämolytischen Syndrom (aHUS), lassen sich die Problematik der Versorgung sowie mögliche Lösungsansätze gut darlegen. Dem aHUS liegt in vielen Fällen eine angeborene Störung der angeborenen Immunabwehr zugrunde. Diese schädigt kleinste Blutgefäße, was zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung führen kann und sich häufig als Nierenversagen manifestiert. Die zentralen Herausforderungen bei der Versorgung der Betroffenen bringen ähnliche Themenkomplexe wie bei vielen seltenen Erkrankungen in teils unterschiedlicher Gewichtung mit sich: Erstens ist die organisatorische und technische Infrastruktur zur Interaktion des Zentrums mit Patienten und Medizinern vor Ort begrenzt. Zweitens existieren große Unsicherheiten hinsichtlich der Refinanzierung beratender, diagnostischer und therapeutischer Leistungen.


          Hohe Arbeitslast erschwert Umsetzung

          Es bedarf der Expertise des Zentrums, die Diagnose und eine Strategie für Therapie und Monitoring zu erstellen. Hierfür ist es notwendig, dass sich die Betroffenen zumindest einmal vor Ort vorstellen. Ergänzende diagnostische Maßnahmen könnten dann auch in der Nähe des Wohnorts erfolgen. Um dies zu ermöglichen, ist es wichtig, heimatnahe ärztliche Kollegen früh einzubeziehen. Dem steht die hohe Arbeitslast vieler niedergelassener Haus- und Fachärzte entgegen. Hier könnten Schwerpunktpraxen als Ansprechpartner für Zentren und Patienten dienen. Der Erfolg hängt jedoch entscheidend von stringenten Rahmenbedingungen ab. Außerdem müssten sinnvolle Anreize geschaffen werden, zum Beispiel durch Zertifizierungen und eine adäquate Vergütung.

          Aktuell verhindern Rechtsunsicherheiten – aufgrund unklarer Erstattung kostspieliger diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen – oftmals eine flächendeckende Umsetzung. Verständlicherweise bieten Ärzte Leistungen, die nicht vergütet werden oder sogar zu finanziellen Risiken führen, in der Praxis nicht an. Videosprechstunden mit dem Zentrum können die notwendige fachliche Sicherheit vermitteln. Aber auch hier gibt es weiterhin erhebliche Hürden hinsichtlich der technischen Infrastruktur sowie offene Fragen zum Datenschutz und zur Abrechnung dieser Leistungen. Es ist nicht sinnvoll, dass Patienten zunächst in das entfernte Zentrum fahren müssen, um einmal im Quartal ihre Versichertenkarte einlesen zu lassen und eine Überweisung abzugeben, bevor sie an einer Videosprechstunde teilnehmen können. Dies gilt in gleichem Maße für das Monitoring und für die Therapie.


          Sich gemeinsam den Herausforderungen stellen

          Die genannten Aspekte werden am Beispiel des aHUS besonders deutlich. Ist die Diagnose einmal gestellt, bedarf es einer regelmäßigen, in vielen Fällen lebenslangen Infusionstherapie in mehrwöchentlichen Abständen. Diese sehr teuren Medikamente werden insbesondere erwachsenen Patienten vorrangig im Zentrum verabreicht. Fachliche Unsicherheiten, ungelöste logistische Herausforderungen wie auch ökonomische Sorgen verhindern häufig eine heimatnahe Versorgung. Sogenannte Home-nursing-Konzepte, das heißt eine Verabreichung von Medikamenten im häuslichen Umfeld, beruhen in Deutschland auf langwierigen Einzelfallentscheidungen ohne klare gesetzliche Vorgaben. Dieser Umstand sorgt dafür, dass derartige Möglichkeiten den meisten Betroffenen vorenthalten bleiben.

          Es besteht ein enormes Potential, die Versorgungsstruktur zu verbessern. Die Bewältigung der aktuellen Pandemie wird hoffentlich zeigen, dass hierzulande große Herausforderungen im Bereich der medizinischen Versorgung gemeinsam gemeistert werden können. Dies muss die Gesellschaft auch in Zukunft im Blick auf seltene Erkrankungen umsetzen.

          Univ.-Professor Dr. med. Paul Brinkkötter arbeitet als Oberarzt in der Klinik II für Innere Medizin, Nephrologie, Rheumatologie, Diabetologie und Allgemeine Innere Medizin an der Uniklinik Köln. Univ.-Professor
          Dr. med. Roman-Ulrich Müller ist geschäftsführender Oberarzt derselben Abteilung.

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