Interview : „Spezifische Therapien erst für zwei Prozent der seltenen Leiden“
Professor Dr. Annette Grüters-Kieslich ist Vorstandsvorsitzende der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Professor Dr. Christopher Baum ist Vorsitzender des Direktoriums des Berlin Institute of Health (BIH) sowie Vorstand des Translationsforschungsbereiches der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Bild: Annette Grüters-Kieslich/Foto David Außerhofer und Christopher Baum/Foto BIH/Thomas Rafalzyk
Gentherapeutische Behandlungen nähren die Hoffnung für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Doch es bedürfe mehr Forschung und mehr Koordination, bis bestimmte Krankheiten keine Waisenkinder der Medizin mehr sind, meinen Annette Grüters-Kieslich und Christopher Baum.
Frau Professor Grüters-Kieslich, im Jahr 2013 wurde der „Nationale Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ (NAMSE) verabschiedet. Wie hat sich mit diesem Aktionsplan die Versorgung der Patienten aus Ihrer Sicht bereits verbessert?
Annette Grüters-Kieslich: Das Herzstück dieses 52 Einzelmaßnahmen umfassenden Katalogs war und ist die Einrichtung einer vernetzten Struktur von speziellen Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSEs), die an den Universitätskliniken als zentrale Anlaufstellen für Patientinnen mit unklaren und seltenen Diagnosen fungieren. Um Diagnosewege noch wirksamer zu verkürzen und Patienten belastende Odysseen zu ersparen, müssen sich die Zentren aber sowohl untereinander als auch mit den niedergelassenen Haus- und Fachärzten enger vernetzen.
Wo besteht der größte Handlungsbedarf?
Annette Grüters-Kieslich: Den größten Handlungsbedarf sehe ich in der Forschung: Jedes Jahr sterben allein in Deutschland mindestens 1000 Kinder und Jugendliche, weil immer noch für lediglich etwa zwei Prozent aller seltenen Erkrankungen spezifische Therapien zur Verfügung stehen. Gezielte Investitionen, insbesondere in die pädiatrische Forschung, könnten dies nun ändern, denn gerade zeichnet sich eine Zeitenwende in der Medizin ab: Erstmals eröffnen leistungsfähige Diagnostik und hochpräzise therapeutische Verfahren nie dagewesene Möglichkeiten, schwerstkranke Kinder vor einem frühzeitigen Tod oder einer lebenslangen Behinderung zu bewahren.
Herr Professor Baum, Sie haben sich früh intensiv mit gentherapeutischen Verfahren beschäftigt. Welche Chancen bieten diese Methoden bei Orphan Diseases?
Christopher Baum: Gentherapeutische Verfahren streben eine Korrektur des genetischen Defekts in den Zellen und Geweben des Körpers an, deren Funktion durch den angeborenen Genfehler verändert ist – zumindest in jenen Zellen und Geweben, die eine Therapie erreichen muss, um die gravierendsten Symptome beherrschen zu können. Hier geht es um Fragen der Quantität: Wie viele Zellen erreicht man mit den verfügbaren Verfahren? Und es geht um die Qualität: Wie gut lässt sich die Ausprägung der Erkrankung korrigieren, möglichst ohne eine Gefahr für schwere Nebenwirkungen? Irreführend wäre die Annahme, dass gentherapeutische Verfahren völlig frei von Nebenwirkungen sein werden. Die Abwägung ist eher, ob ihre Nebenwirkungen geringer sind als jene herkömmlicher Behandlungsmethoden und ob sie im Verhältnis zur therapeutischen Wirkung tolerabel sind. Wir sprechen, wie auch bei den klassischen medikamentösen Verfahren, von einem therapeutischen Fenster. Perspektivisch wird dieses Fenster durch Fortschritte der Wissenschaft zunehmend größer, und gentherapeutische Ansätze lassen sich auch bei zunehmend mehr genetischen Erkrankungen anwenden.
Wie kann die schnelle Translation neuer Forschungsergebnisse gelingen?
Christopher Baum: Sie gelingt, wenn alle relevanten Fragen und möglichen Probleme rechtzeitig erkannt und im Aktionsplan der präklinischen und klinischen Entwicklung umfassend antizipiert werden. Sehr hilfreich ist die frühzeitige Identifikation geeigneter Partner bis hin zu ganzen Netzwerken – auch internationalen –, um die Themen jeweils mit hoher Kompetenz anzugehen; hierzu zählen wissenschaftliche, technische und regulatorische Dimensionen. Die Anforderungen wechseln von Projekt zu Projekt. Das muss die Projektleitung berücksichtigen und die notwendige Agilität mitbringen. Besonders wichtig ist es auch, Patientinnen und Patienten beziehungsweise ihre Interessenvertretungen frühzeitig einzubinden. Schließlich müssen ausreichend finanzielle Mittel sichergestellt werden. Beispiele für den Erfolg akademisch initiierter internationaler Netzwerke gibt es etwa bei der Gentherapie von angeborenen Immundefekten, Hämoglobinopathien, Speicherkrankheiten oder der Hämophilie.
Die alten Silos verschwinden zunehmend: Forschung, klinische Studien und Patientenversorgung nähern sich an. Wie lässt vor diesem Hintergrund die Zusammenarbeit zukünftig gestalten?
Annette Grüters-Kieslich: Es wäre schön, wenn die Silos verschwänden, aber noch stehen leider viel zu oft institutionelle und individuelle Konkurrenzsituationen im Weg. In Deutschland ist die Universitätsmedizin der einzige Ort mit Strukturen, die gleichzeitig eine erkenntnisbasierte und patientenorientierte Forschung ermöglichen und diese sinnvoll mit Grundlagenforschung und der klinischen Entwicklung innovativer Therapien verbinden.
Nur in der Universitätsmedizin lässt sich eine schnelle Translation des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns realisieren. Der medizinische Fortschritt hängt daher für unsere Gesellschaft von einer personell und strukturell dafür ausgelegten Universitätsmedizin ab. Es gibt aber auch exzellente Forschung in den außeruniversitären Einrichtungen, und es wäre unverantwortlich, dorthin keine Brücken zu bauen. Es existieren bereits gute Ansätze, wie die Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung (DZG), das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) und natürlich das Berlin Institute of Health (BIH).
Christopher Baum: Die seltenen Erkrankungen brauchen große Allianzen, auch international. Zudem spielt die Medizininformatik und deren Anbindung an transsektorale, im Patientenalltag verfügbare Informations- und Versorgungsinstrumente eine große Rolle. Die Überwindung von Silos erfordert intensive Kommunikation aller Akteure und Betroffenen und jederzeit Offenheit für Neues.
Wo können/wollen Sie 2030 stehen?
Annette Grüters-Kieslich: Im Sinne von „I have a dream“: Es gibt ein etabliertes Netzwerk der ZSEs, das jeder Patientin und jedem Patienten den Weg zu einem Experten aufzeigt und eng mit den Primärversorgern zusammenarbeitet. Es existiert, komplementär dazu, ein dauerhaft gefördertes nationales Forschungsnetzwerk für seltene Erkrankungen, das strukturiert Forschungsansätze für die größten Medical Needs verfolgt. Im Sinne von „lessons learned“ wäre ein stabiles Versorgungsnetzwerk zertifizierter Zentren, die auch in der Forschung kooperieren, schon ein gewaltiger Fortschritt.
Die neuen Therapien sind oft mit hohen Investitionen in die Forschung verbunden, was sich dann in hohen Therapiekosten niederschlägt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklungen?
Christopher Baum: Die teils hohen Kosten innovativer Therapien schaffen in der Tat große Herausforderungen, nicht nur für die Gesellschaft und ihr Gesundheitssystem, sondern auch für die betroffenen Menschen. Für die Forschung und Entwicklung bedeutet dies, dass Ansätze zur Kostensenkung, unter Erhalt der Qualität, ein wichtiger Innovationstreiber werden. Bei Zell- und Gentherapeutika sehen wir einigen Spielraum für konstruktive Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt der Kostensenkung und Verfügbarkeit. Man darf jedoch nicht vergessen, dass neue Therapien womöglich auch zur Kostenersparnis beitragen: Ist der Gendefekt aufgehoben und der Körper kann das fehlende Enzym oder Protein wieder selbständig herstellen, fallen oft immense Ausgaben weg, die für die lebenslange regelmäßige externe Zufuhr des fehlenden Genprodukts angefallen wären oder für die Behandlung von Komplikationen durch eine suboptimale Therapieeinstellung. Man denke etwa an die Hämophilie. Zugleich steigt die Lebensqualität erheblich – alles unter der Voraussetzung langfristiger Sicherheit und Effizienz einer gentherapeutischen Intervention.
Annette Grüters-Kieslich: Wir müssen akzeptieren, dass die Pharmazeutische Industrie renditeorientiert agieren muss, auch um Therapien für alle Betroffenen zu ermöglichen und weiteren Fortschritt zu sichern. Das effiziente Zusammenwirken von Politik, Wissenschaft und Industrie für die Covid-19-Forschung hat gezeigt, dass es Ergebnisse stark beschleunigen kann, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Im Bereich der seltenen Erkrankungen wird ein vergleichbarer Schulterschluss erforderlich, wenn wir es nicht länger dem Zufall überlassen wollen, wer am medizinischen Fortschritt teilhaben darf – und wer nicht.
Wir brauchen dringend ein zentral koordiniertes Forschungs- und Versorgungsnetz, das sich nach Abwägung rechtlicher, ethischer und ökonomischer Fragen den dringendsten medizinischen Notwendigkeiten widmet. Dazu müssen wir die Expertise bündeln und entschlossen in die Aus- und Weiterbildung von wissenschaftlich ambitionierten Ärztinnen und Ärzten investieren. Wir sind überzeugt davon, dass für die Finanzierung einer solchen Initiative, nebst eines Fonds für die Therapieentwicklung, neue gemeinsame Wege nicht nur gefunden werden müssen, sondern auch können.
Das Interview führte Anna Seidinger.
Ein steiniger Weg
Patienten mit seltenen Erkrankungen adäquat zu versorgen ist schwierig – aber nicht unmöglich. Fortschritte zeigen sich nicht nur auf dem Gebiet der Diagnostik, sondern auch in der Etablierung und Vernetzung von Strukturen. Doch zu oft müssen Betroffene noch lange Ärzteodysseen bei Diagnose und geeigneter Therapie auf sich nehmen. Von Miriam Sonnet
Änderungen im Neugeborenen-Screening
Ein Neugeborenen-Screening trägt maßgeblich dazu bei, schwere seltene Stoffwechselerkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Erst 2019 veröffentlichte der Gemeinsame Bundesausschuss eine Neufassung der Kinder-Richtlinie zur Einführung eines Screenings auf Schwere Angeborene Immundefekte (SCID). Seit 2016 ist auch die Untersuchung auf Mukoviszidose enthalten. Insgesamt umfasst das Neugeborenenscreening 14 Zielerkrankungen, von denen die meisten selten sind. www.gesundheitsforschung-bmbf.de
Schnellere und kostengünstigere Diagnostik
Seltene Erkrankungen sind komplex, heterogen und lösen meist eine ganze Reihe von Symptomen aus. Das alles erschwert die Diagnose. Da rund 80 Prozent der Leiden eine genetische Ursache zugrunde liegt, ist eine Analyse des Erbguts in den meisten Fällen besonders wichtig. War dies früher zeitaufwändig und teuer, macht es das sogenannte „next generation sequencing“ heute möglich, das gesamte Genom eines Menschen kostengünstig und schnell zu entschlüsseln. Fortschritte in der Digitalisierung sind für die Diagnose besonders bedeutsam: So stehen Ärzten mittlerweile Programme zur Verfügung, die sie unterstützen. Durch den Abgleich mit Symptomdatenbanken wird die Treffgenauigkeit weiter erhöht. www.screening-dgns.de
Die Suche nach einem Experten
Weil die Erkrankungen so selten sind, gibt es auch nur wenige Spezialisten. Für erwachsene Patienten gleicht die Zeit bis zur Diagnose und Therapie daher oftmals einer Odyssee. Das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen will das ändern: durch Informationen, eine spezifischere medizinische Aus- und Fortbildung sowie die Bildung von Netzwerken und Fachzentren. Mittlerweile gibt es 33 Zentren in ganz Deutschland, die sich auf Diagnose und Therapie seltener Erkrankungen spezialisiert haben. Wird ein Patient in einem solchen Zentrum auf eine Dauerbehandlung eingestellt, so kann die weitere Versorgung ambulant und wohnortnah erfolgen. www.bundesgesundheitsministerium.de
Herausfordernde Forschung
Von den rund 8000 Leiden können zurzeit 131 mit den von der EU als Orphan Drugs zugelassenen Medikamenten behandelt werden. Deren Entwicklung bleibt eine Herausforderung: Zum einen kennen Forscher viele Krankheitsprozesse noch nicht, zum anderen sind klinische Studien zu den Wirkstoffen mit einem großen Aufwand verbunden. Auch aus ethischer Sicht entstehen Probleme, denn dem zunächst noch wenig gesicherten Wissen über die Krankheit und der in der Erprobung befindlichen Therapie steht der Wunsch der Patienten nach einer schnell verfügbaren Arznei gegenüber. Lange standen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Entwicklung neuer Therapien im Weg. Die seit dem Jahr 2000 geltende Orphan Drug-Verordnung hat dies verbessert. www.vfa.de
Vernetzung verbessert die Versorgung
Die Digitalisierung soll maßgeblich dazu beitragen, Patienten mit seltenen Erkrankungen besser zu versorgen. Der Forschungsverbund CORD-MI setzt hier an: Ziel ist es, die Dokumentation in Kliniken zu verbessern und zu vereinheitlichen. Das ermöglicht es, Daten standortübergreifend zu nutzen. Dadurch sollen neue Forschungsprojekte angestoßen und seltene Erkrankungen sichtbarer gemacht werden. Zahlreiche Universitätsklinika und Partnerinstitutionen beteiligen sich an dem Projekt. Auch Selbsthilfegruppen entwickeln sich mehr und mehr zu einer zentralen Versorgungssäule. Deren internationale Vernetzung steht ebenfalls auf dem Plan: sie soll künftig schneller und intensiver erfolgen. www.data4life.care