: Fortschritte bei der spinalen Muskelatrophie
Neue Therapien können ein Segen für den Einzelnen sein. Doch die Forschungsaktivitäten dürfen auch dann nicht nachlassen. Bild: Jaren Wicklund/Fotolia
Die spinale Muskelatrophie entsteht durch den Verlust von Nervenzellen im Rückenmark, die die Muskulatur ansteuern. Es kommt zu einer fortschreitenden Muskelschwäche und zu einem Muskelschwund. Diese seltene Erkrankung werden von zumeist gesunden Eltern an ihre Kinder vererbt, die bereits im Säuglings- oder Kindesalter erkranken.
Der Verlauf der Spinalen Muskelatrophie (SMA) ist nicht bei allen Patienten gleich: Je nachdem, wann die Muskelschwäche erstmals auftritt und welchen motorischen Entwicklungsstand wie Sitzen, Stehen und Gehen die Betroffenen erreicht haben, wird die Erkrankung in vier Typen eingeteilt. Am häufigsten sind Säuglinge betroffen, deren Muskulatur bereits in den ersten Lebensmonaten so schwach ist, dass Arme und Beine nicht mehr bewegt werden können. Die Kinder sterben frühzeitig an einer Schwäche der Atemmuskulatur. Eher selten erkranken Erwachsene, die dann beispielsweise beim Gehen nur eine leichte Schwäche der Oberschenkelmuskulatur bemerken. Zwischen diesen Extremen finden sich viele Kinder und Jugendliche, die niemals laufen konnten oder diese Fähigkeit im Verlauf der Erkrankung verloren haben. Sie sind daher auf den Rollstuhl und auf pflegerische Unterstützung angewiesen und haben aufgrund des fortschreitenden Absterbens der Nervenzellen ebenfalls eine reduzierte Lebenserwartung.
Trotz der unterschiedlichen Krankheitsverläufe ist die Ursache bei allen Betroffenen gleich: das SMN1-Gen, das den Bauplan für das gleichnamige Eiweiß vorgibt, ist verändert. Es konnte jedoch bislang nicht abschließend geklärt werden, warum eine verminderte Menge bzw. das Fehlen dieses Proteins zu einem Absterben der Nervenzellen im Rückenmark führt. Neben dem SMN1-Gen gibt es weitere, sogenannte SMN2-Gene, die für die Bildung eines weniger funktionsfähigen SMN-Eiweißes verantwortlich sind. So ist bei Patienten mit SMA, die mehr SMN2-Genkopien aufweisen, der Verlauf der Erkrankung meist milder als bei Patienten mit nur wenigen SMN2-Genkopien, da der SMN-Proteinmangel hierdurch bedingt kompensiert wird.
Bereits Neugeborene sollten auf diese Gendefekte getestet werden
Seit der Entdeckung der SMN-Gene forschen Wissenschaftler an einer Therapie, die die Menge des funktionsfähigen SMN-Eiweißes erhöht und damit die Nervenzellen schützt. Dies ist erstmals mit dem Medikament Nusinersen gelungen, das einer neuartigen Substanzklasse angehört. Der Wirkstoff greift zwischen dem Ablesen des SMN2-Gens und der Herstellung des SMN-Proteins ein. In klinischen Studien hat sich gezeigt, dass Kinder, die mit diesem Medikament behandelt wurden, motorische Fähigkeiten entwickelten, die im Spontanverlauf der Erkrankung nicht möglich gewesen wären. Seit 2017 ist das Medikament für die Behandlung der SMA in Deutschland zugelassen. Weitere Therapieansätze, allen voran die Genersatztherapie, bei der mit Hilfe eines abgeschwächten Virus das SMN1-Gen selbst in die Nervenzellen eingebracht wird, zeigen in derzeitigen Studien ebenfalls sehr gute Erfolge. Die Zulassung wurde im Oktober 2018 für betroffene Säuglinge beantragt.
Diese neuen und erfolgversprechenden Therapieansätze stellen Fortschritte in der Behandlung der SMA dar, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren. Allerdings zeigte sich bereits bei der Zulassung von Nusinersen, dass Patienten vor allem dann profitieren, wenn die Therapie noch vor dem Untergang der Nervenzellen und damit vor Beginn der ersten Symptome begonnen wird. Da die Diagnose bislang anhand der genetischen Testung jedoch erst dann gestellt wird, wenn Muskelschwäche und -schwund auffallen, wird derzeit an einer Aufnahme der Erkrankung in das Neugeborenen-Screening gearbeitet. Schwer von der Erkrankung betroffene Patienten, bei denen bereits sehr viele Nervenzellen untergegangen sind, werden vermutlich weniger von den neuen Therapien profitieren. Zudem zeichnet sich ab, dass nicht alle Patienten gleich gut auf die Therapie ansprechen, selbst wenn damit frühzeitig begonnen wird. Weiterhin fehlen Langzeitergebnisse: Werden Kinder mit SMA, bei denen die Behandlung früh genug eingeleitet wurde und die zunächst normale motorische Funktionen entwickeln, diese auch langfristig aufrechterhalten? Treten möglicherweise im Verlauf andere gesundheitliche Probleme auf, die derzeit noch gar nicht abzuschätzen sind?
Wegweisend für andere neurologische Krankheiten
Daneben stellen auch praktische Aspekte weitere Herausforderungen dar: Da der Wirkstoff die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann, muss das Medikament wiederholt in das Nervenwasser, das das Rückenmark umgibt, gespritzt werden. Bei vielen Patienten mit SMA ist diese Form der Medikamentengabe jedoch kompliziert, da die Wirbelsäule durch den Rückgang der Muskulatur oft verkrümmt ist, was die Injektion erschwert. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass Jugendliche und Erwachsene nicht in den klinischen Studien zur Beurteilung der Wirksamkeit von Nusinersen eingeschlossen waren. Daher liegen derzeit keine Daten für die Wirksamkeit bei dieser Patientengruppe vor. Aus diesem Grund ist in vielen anderen Ländern die Gabe des Medikaments auf betroffene Kinder beschränkt. Dies ist gerade in Hinblick auf die hohen Kosten der Therapie relevant.
Die SMA ist eine seltene Erkrankung, in Deutschland ist etwa jedes 10 000. Neugeborene betroffen. Die derzeitigen diagnostischen und therapeutischen Fortschritte und Herausforderungen sind aber gleichzeitig wegweisend für andere, häufiger auftretende neurologische Krankheitsbilder. So werden derzeit Medikamente der gleichen Stoffgruppe bei der Huntington-Erkrankung, bei genetischen Formen der Amyotrophen Lateralsklerose und auch bei Alzheimer-Demenz geprüft.
Dr. med. Claudia Diana Wurster ist Fachärztin für Neurologie an der Klinik für Neurologie der Universitätsklinik Ulm.