https://www.faz.net/asv/fortschritte-in-der-neurologie/die-ungeahnten-moeglichkeiten-der-regeneration-15850799.html
Verlagsspezial

: Die ungeahnten Möglichkeiten der Regeneration

  • -Aktualisiert am

Nervenzellen bilden hochkomplexe Strukturen und sind untereinander tausendfach verbunden. Bild: adimas/Fotolia

Das menschliche Gehirn kann bis ins hohe Alter wandlungs- und anpassungsfähig bleiben. Diese Fähigkeiten nutzen Mediziner bereits im Rahmen multimodaler Therapieansätze, um Hirnfunktionen nach Schlaganfall und anderen Akutschädigungen wiederherzustellen. Die Herausforderung liegt in der breiten Anwendung.

          4 Min.

          Wenn Sie diesen Artikel gelesen haben, wird Ihr Gehirn ein anderes sein. Neue Verbindungen werden entstanden, aber auch einige Gehirnzellen abgestorben sein. Dieser Vorgang ist normal und bildet die Grundlage für das tägliche Erleben der Umwelt, für soziale Interaktionen sowie für Lernprozesse jeglicher Art. Experten sprechen von Neuroplastizität und verstehen darunter die Fähigkeit des Gehirns, sich in seiner Struktur und seinen Funktionen zu verändern, um sich spezifischen Anforderungen anzupassen.
          Diese Prozesse ereignen sich in dem hochkomplex verschalteten Organ mit knapp hundert Milliarden Nervenzellen, die untereinander über tausend Verbindungen je Nervenzelle ausbilden können. Es ist auch die Fähigkeit zur Neuroplastizität, die es dem Gehirn ermöglicht, nach akuten Schädigungen wie Schlaganfall verlorengegangene Funktionen wiederzuerlangen, und daher eine wichtige Reserve darstellt, auf die innovative Konzepte zur Neurorehabilitation von Hirnerkrankungen zurückgreifen. Allerdings haben diese neuen Erkenntnisse bisher noch keinen ausreichenden Zugang in die Versorgung der Pa­tienten gefunden. Nach wie vor gehören Schlaganfälle zu den häufigsten Todesursachen weltweit. Aufgrund der Verbesserung der Akutbehandlung –  durch die sogenannten Stroke-Units, wie die Spezialeinrichtungen an Krankenhäusern genannt werden, und die Lysetherapie – konnte zwar die Überlebensrate gesteigert werden, doch die langfristigen Schäden sind bei vielen Betroffenen immer noch gravierend: Von den über 250000 Menschen in Deutschland, die jährlich einen Schlaganfall erleiden, sind mehr als 6o Prozent auch ein Jahr nach dem Ereignis noch auf Therapie, Hilfsmittel oder Pflege angewiesen.
          Die Faktoren, welche die Hirnleistung bei gesunden Menschen beeinflussen, spielen eine umso größere Rolle, wenn die Neuroplastizität in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall gefördert werden soll. Hierzu gehören insbesondere die an der Blut-Hirn-Schranke ablaufenden Prozesse: Das menschliche Gehirn benötigt für eine gute Leistungsfähigkeit große Mengen Energie, die es vorwiegend aus Glukose und sauerstoffreichem Blut gewinnt. Während der Sauerstoff über kleinste Gefäßäste, sogenannte Kapillaren, direkt in das Gehirn diffundiert, werden Glukose und Aminosäuren, die für den Aufbau von Botenstoffen wichtig sind, aktiv über die Blut-Hirn-Schranke in das Gehirn transportiert. Gleichzeitig werden an dieser Grenzfläche schädliche Stoffe aus dem Blut zurückgehalten, empfindliche Konzentrationsgradienten aufrechterhalten und der Abtransport von Stoffwechselprodukten aus dem Gehirn kontrolliert.


          Komplexe Vorgänge verstehen

          Seit kurzem ist bekannt, dass sich an der Blut-Hirn-Schranke auch grundlegende Pro­zesse der Zellerneuerung abspielen. So konnte gezeigt werden, dass auch noch bei Erwachsenen in der Nähe der an der Blut-Hirn-Schranke liegenden Hirninnenräume neue Nervenzellen gebildet werden. Die hierfür nötigen Voraussetzungen finden sich in einem engen Zusammenspiel der kleinen Hirngefäße mit den umgebenden Astrozyten und Stammzellen, was der Begriff „neuro-vaskuläre Nische“ gut beschreibt.
          Während Störungen der Funktionen an der Blut-Hirn-Schranke an zahlreichen Erkrankungen des Gehirns wie Schlaganfall, multipler Sklerose oder Alzheimer-Demenz beteiligt sind, stellt die neurovaskuläre Nische einen Ansatzpunkt für regenerative Therapien des Gehirns dar.
          Schon vor Jahren konnten Wissenschaftler bei Nagetieren, die sich freiwillig ausreichend bewegen oder in einer sozial anregenden Umgebung im Laborkäfig aufwachsen, wesentlich mehr neuronale Stammzellteilungen zählen als bei wenig aktiven Artgenossen. Doch erst vor kurzem gelang der Nachweis, dass auch bei erwachsenen Menschen neue Nervenzellen in der neurovaskulären Nische entstehen können und dieser Vorgang aktivitätsabhängig bis ins hohe Alter gefördert werden kann. Das bedeutet: Jedes aktive körperliche Training unterstützt nicht nur das Herz-Kreislauf-System, den Fettab- und Muskelaufbau, sondern es ist immer auch förderlich, damit sich die Zellen im Gehirn erneuern. Diese Prozesse lassen sich durch regelmäßige körperliche Aktivität von mittlerer Intensität anregen – Studien belegen, dass über 80 Prozent der Leistungsfähigkeit des Gehirns direkt durch sportliche Tätigkeit beeinflusst werden kann.


          Regenerationsprozesse fördern

          Bedeutsam für die regenerative Medizin ist die Tatsache, dass sich bei akuter Hirnschädigung, wie zum Beispiel Schlaganfall, neuronale Vorläuferzellen in der neurovaskulären Nische teilen und in Richtung der geschädigten Hirnregion wandern. Allerdings sterben die meisten dieser Zellen nach wenigen Tagen wieder ab, wenn nicht gezielt Medikamente eingesetzt werden, die günstige Bedingungen für die Zellen schaffen. Hierzu gehören die als Cholesterinsenker bekannten Statine, die oft aufgrund erhöhter Blutfettwerte zur Sekundärprophylaxe in der akuten Schlaganfallbehandlung eingesetzt werden. Da Statine zudem vermehrt Gefäße in den Randgebieten des Schlaganfalles regenerieren können, können sie die funktionelle Restitution verbessern. Interessanterweise kann dieser Prozess ebenfalls durch aerobes Training gefördert werden, welches möglichst frühzeitig nach einem Schlaganfall begonnen und situations-angepasst intensiviert werden sollte.
          Die Wanderung der neugebildeten Hirnzellen aus der neurovaskulären Nische und synaptische Integration in die geschädigte Hirnregion können wesentlich durch konzentriertes, funktionsspezifisches Üben der betroffenen Ausfälle, wie Fingerstreckung einer gelähmten Hand, gefördert werden. Neuerdings zeigte sich, dass es bei der Effektivität dieses Trainings entscheidend auf die Frequenz der Übungen ankommt: Mit der Ausbildung neuer Synapsen ist erst ab über 100 Wiederholungen zu rechnen. Interessanterweise ist hierfür bereits die Vorstellung der intendierten Bewegung bedeutend. Unterstützt werden kann diese Integration durch taktile, visuelle und akustische Rückkopplung sowie funktionelle Neurostimulation durch schwache Gleichstrom- oder Magnetimpulse.


          Aus der Rehabilitation lernen

          Neben den aktiven Verfahren spielen für die Verfestigung der neugebildeten Synapsen und für die strukturelle Integration der neugebildeten Nervenzellen auch passive Verfahren, wie erholsamer Schlaf und Reduktion von Stress durch verschiedene Entspannungsverfahren, eine sehr wichtige Rolle. So zeigen verschiedene klinische Studien, dass der tägliche Hörgenuss von selbstgewählter Musik zu einer signifikanten Verbesserung der gemessenen Neuroplastizität und des Rehabilitationserfolges beitragen kann.
          Einige der wissenschaftlich belegten Fortschritte zur Wiederherstellung von Hirnfunktionen finden sich bereits in Therapiekonzepten zur Behandlung von akuten Hirnschädigungen. Sie zeigen, welch enormes Regenerationspotential sich unabhängig vom Alter in unserem Gehirn entfalten lässt. Der Spruch „Use it or lose it“ gilt also nicht nur für Muskeln, sondern besonders auch für das menschliche Gehirn. Freuen Sie sich, dass Ihr Gehirn jetzt ein anderes ist, und wenden Sie im Alltag bereits präventiv die Konzepte der klinischen Neuroplastizität an.
           
          Prof. Dr. med. Peter Rieckmann, FAAN, FRCPC ist Chefarzt der Klinik für Neurologie am Medical Park Loipl in Bischofswiesen.

          Topmeldungen

          Eine individuelle, auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Behandlungsstrategie ist für den Therapieerfolg entscheidend.

          : Verbesserte Aussichten für Betroffene mit Multipler Sklerose

          Die öffentliche Wahrnehmung assoziiert die Krankheit Multiple Sklerose mit starken Beeinträchtigungen und dem Bild des Rollstuhls. Dank vielfältiger Therapieoptionen hat sich die Prognose für viele Patienten in den letzten Jahren deutlich verbessert. Doch die Behandlung gehört in die Hände von Spezialisten.

          Interview : „Den chronischen Untergang von Nervenzellen stoppen“

          Neurodegenerative Krankheiten sind vielfältig in ihren Krankheitsbildern, sie eint der chronische Untergang von Nervenzellen durch Entzündungsprozesse. Anna Seidinger spricht mit Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Münster, über Fortschritte in der Therapie und die zukünftigen Herausforderungen.
          Ein Schlaganfall trifft Menschen aus heiterem Himmel. Nur ein schnelles ärztliches Eingreifen kann Spätfolgen reduzieren.

          : Schlaganfall – besser behandeln und vorbeugen

          Schlaganfälle sind weltweit die dritthäufigste Todesursache und die häufigste Ursache für eine bleibende Behinderung. Seit neuestem können viele, aber längst nicht alle Patienten in der Akutphase erfolgreich behandelt werden. Daher ist eine wichtige Frage: Wie können wir Schlaganfälle zukünftig besser verhindern?
          Nervenzellen bilden hochkomplexe Strukturen und sind untereinander tausendfach verbunden.

          : Epilepsie: noch viele Patienten hoffen auf bessere Behandlung

          Viele Epileptiker leiden neben den typischen Anfällen auch unter den gesellschaftlichen Folgen ihrer Krankheit. Noch immer kann ein Drittel der Patienten nicht ausreichend behandelt werden. Daher bedarf es weiterer Anstrengungen in der Forschung, um wirksamere Therapien zu entwickeln.