: Digitale Transformation bedeutet mehr als Gesundheits-Apps auf Rezept
- -Aktualisiert am
Für die Akzeptanz digitaler Anwendungen braucht es Herz und Verstand. Bild: ipopba/Adobestock
Das Gesundheitssystem wird zunehmend digital und verwandelt sich schon jetzt in ein offenes, selbstorganisiertes Netzwerk führt nicht nur dazu, dass sich Telemedizin, Apps & Co. verbreiten. Sie verändert vielmehr die Gesellschaft.
Die aktuelle Pandemie zeigt auf, wie leicht sich bürokratische Vorgaben abbauen lassen, wenn es denn sein muss. Die Bürger fordern mittlerweile mehr digitale Angebote ein: Fast jeder zweite kann sich gemäß einer aktuellen Bitkom-Studie vorstellen, künftig eine Videosprechstunde in Anspruch zu nehmen. Großes Interesse besteht zudem darin, elektronische Patientenakten und E-Rezept zu nutzen. Auch die Künstliche Intelligenz stößt vermehrt auf Akzeptanz. Dabei sind Patienten den digitalen Neuerungen gegenüber aufgeschlossener als die Ärzteschaft.
Es mag noch etwas früh sein, um bereits abschließend darüber zu urteilen, wie sich Corona auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen auswirkt. Sicher ist jedoch, dass dieser Ausnahmezustand zu einer Art Defreezing von E-Health und Digital Health in Versorgungsprozessen führt. Ein langsames Auftauen allerdings, was den Einbezug digitaler Tools und Technologien, die Etablierung vernetzter Prozesse und die Haltung dem digitalen Wandel gegenüber betrifft.
Neue Lebenswelt entsteht
Die Grundlagen dafür sind eigentlich schon länger vorhanden. Der gesetzliche Rahmen für die sichere digitale Kommunikation trat in Deutschland Ende 2015 in Form des E-Health-Gesetzes in Kraft. Aber nur langsam finden technologische Entwicklungen wie Telematikinfrastruktur, Stammdatenmanagement, elektronische Patientenakte und Videosprechstunden Beachtung und ziehen in die Kliniken, Praxen und Labors ein.
Die Diskussion über die Digitalisierung im Gesundheitswesen verliert sich häufig in technischen Detailfragen, konkreten Umsetzungsproblemen oder datenschutzrechtlichen Diskursen. Dabei gerät außer Acht, dass die Gesellschaft mit einem grundlegenden Veränderungsprozess konfrontiert ist, der als digitale Transformation bezeichnet wird. Dieser Veränderungsprozess geht weit über den Einsatz von Technologie hinaus und reicht tief in die Werte, Haltungen und Normen der Gesellschaft hinein. Der Kern ist die Konnektivität, also die zunehmende Organisation der Lebenswelt in Netzwerken.
Die Auswirkungen sind bereits spürbar. Das Gesundheitswesen wandelt sich von einem geschlossenen, Top-down gesteuerten System mit klaren Rollen und Funktionen hin zu einem offenen, selbstorganisierten Netzwerk. Konnektivität impliziert weit über neue Technologien und Geschäftsmodelle hinaus in erster Linie eine Veränderung des Mindsets und der Kultur. Neben der längst überfälligen technischen Interoperabilität von Daten muss vorrangig die kulturelle Interoperabilität im Gesundheitswesen gefördert werden.
Mehrwert des Patienten im Fokus
Wenn Gesundheit auf dem Hintergrund einer zunehmenden Konnektivität konsequent vernetzt weitergedacht wird, hat dies eine Reihe von grundlegenden Implikationen für alle Beteiligten – von Patienten, Leistungserbringern, Selbstverwaltung, über Kassen und Industrie bis zur Gesundheitspolitik. Das Gesundheitssystem und insbesondere seine Abgeltungsme-chanismen basieren auf einer scharfen, aber ziemlich wirklichkeitsfremden Trennung von Gesundheit und Krankheit. Die Netzwerkperspektive sieht Gesundheit und Krankheit als Kontinuum. Damit rücken Themen wie Prävention und Public Health als zentrale Investitionsbereiche in den Fokus, ebenso weichen starre Grenzen zwischen erstem, zweiten und dritten Gesundheitsmarkt auf. Technologie stellt für ritualisierte Expertenrollen keine Gefahr dar, sondern ist ein unverzichtbarer Akteur im Netzwerk.
Ausgerichtet ist das vernetzte Gesundheitswesen am Mehrwert für den Patienten. Gesundheitsprodukte und -dienstleistungen würden personalisiert, auf Abruf, sicher und transparent erbracht. Offenheit und Transparenz sollten zu grundlegenden Werten des Gesundheitswesens werden. Anwendungen wie Open Data, Open Research, Open Innovation, Open Notes, offene Qualitätsdaten sind bereits vorhanden und sollten im Blick auf die Forderung nach mehr Qualität breit implementiert werden.
Konnektivität verlangt gleichzeitig, dass die Akteure ihre Organisationsstrukturen überdenken. Dezentrale und selbstorganisierte Einheiten lösen Hierarchie und zentrale Steuerung ab. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist Burtzoorg, ein neues Versorgungs- und Arbeitsmodell, das seit 2006 in den Niederlanden in der ambulanten Pflege angewendet wird. Das Modell basiert auf der Idee, dass eine Netzwerkorganisation gegenüber einem klassischen hierarchischen System viel besser in der Lage ist, für Zufriedenheit unter den Pflegebedürftigen, Angehörigen und Mitarbeitenden, aber auch im sozialen Umfeld sowie bei den anderen Akteuren im Gesundheitswesen und der Gesellschaft zu sorgen. Buurtzorg richtet seinen Fokus konsequent auf die Bedürfnisse der Menschen aus. Die weit über 10 000 Mitarbeiter arbeiten ohne Manager in selbstorganisierten Teams von höchstens zwölf Personen, die von lediglich 50 Mitarbeitern im Bereich der zentralen Funktionen unterstützt werden. Untersuchungen zeigen, dass sich dieses Netzwerkmodell positiv auf die Pflegequalität auswirkt und gleichzeitig die Motivation hebt.
Organisationale Konnektivität, Co-Creation und Anschlussfähigkeit treten an die Stelle von Konkurrenz. Dass dies funktioniert, haben Google, Apple und zahlreiche Pharmaunternehmen während der Coronazeit bewiesen.
Bürger als bestimmende Akteure
Konnektivität bedeutet weiterhin, dass vernetzte Versorgungsmodelle Versorgungssilos ablösen, um osmotische Übergänge zwischen stationär, ambulant und zu Hause, zwischen online und offline zu gewährleisten. Gleichzeitig verändert dieses Grundprinzip die Gesundheitsberufe. Anstelle des professionellen Kastenwesens treten Kompetenznetzwerke. In der Aus- und Weiterbildung wird Zusammenarbeit, Kreativität und Cognitive Load Management, also der Umgang mit Überfülle und Komplexität, immer wichtiger.
Da sich Netzwerke nicht Top-down steuern lassen, braucht es auch im Gesundheitswesen neue Steuerungsmechanismen: Governance statt Government und Kontextsteuerung anstelle von Top-down-Management. Selbst die Qualitätssicherung verändert sich aufgrund der Konnektivität. Die von Kunden berichteten Ergebnisse rücken in den Fokus und bilden die Grundlage für neue Abgeltungsmechanismen.
Die Menschen als Patienten, Bürger und Kunden werden mit diesen Veränderungen dazu befähigt, als bestimmende Akteure zu agieren. Empowerment und Personalisierung verpflichtet aber. Öffentlichkeit als Default-Einstellung tritt an die Stelle der Privatsphäre – auch im Umgang mit medizinischen Daten, die nicht mehr nur dem Einzelnen gehören, sondern zu einem gemeinschaftlichen, genossenschaftlich verwalteten Gut werden.
Das Thema der Digitalisierung istheute in den meisten Organisationen präsent. Personell wie finanziell wird einiges investiert. Digitale Transformation benötigt aber vor allem eine Durchlässigkeit der Hirne und Herzen sowie eine gemeinsame Vision, wohin die Reise im Gesundheitswesen gehen soll. Sie braucht nicht nur Geld, sondern vor allem mehr Vertrauen, Mut und Leidenschaft für Veränderung.
Professor Andréa Belliger ist Prorektorin der PH Luzern und leitet das Institut für Kommunikation und Führung. Sie leitet die Online-Fortbildung Digital Health. 2019 wurde sie unter die 25 einflussreichsten Persönlichkeiten im Gesundheitswesen der Schweiz gewählt.