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Verlagsspezial

: Ein Blick über den eigenen Tellerrand hilft

  • -Aktualisiert am

Ein weiter Blick vergrößert den Horizont. Das ist auch in der digitalen Transformation hilfreich. Bild: Sergey Nivens/Adobe Stock

Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen geht schleppend voran. Kritiker und Befürworter digitaler Lösungen befürchten gleichermaßen, den Anschluss zu verlieren. Anstatt nach Gründen zu suchen, hilft ein Blick auf andere Branchen, die in der digitalen Transformation weiter vorangeschritten sind.

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          Das Gesundheitswesen weist einige Charakteristika auf, die für den digitalen Wandel relevant sind. Dazu gehören komplexe Dienstleistungs-Ökosysteme ohne zentrale Governance mit starken individuellen Akteuren und isolierten Wertschöpfungsketten, starke Regulierung und Datenschutzanforderungen. Nicht zuletzt steht das Wohl der Patienten und nicht der unternehmerische Erfolg am Ende immer an erster Stelle. Gleichwohl kann das Gesundheitswesen von Branchen lernen, die sich schon länger intensiv und erfolgreich mit der digitalen Transformation auseinandersetzen.


          Richtige Governance nötig

          Unternehmen, die sich systematisch und mit langem Atem mit der digitalen ­Transformation beschäftigen, sind im Vorteil. Drei Dinge sind wesentlich. Erstens muss das Thema Digitalisierung stetig auf der Agenda des Topmanagements stehen. Das gesamte Topmanagement muss die Digitalisierungsstrategie kontinuierlich weiterentwickeln, denn zu schnell ändern sich Technologien und Märkte im digitalen Kontext. Für die Medizin bedeutet das unter anderem, dass auch die ärztliche Seite sich damit beschäftigen muss. Zweitens ist es wichtig, dass es in jeder Organisation eine Einheit gibt, die die Weiterentwicklung der Digitalisierungsstrategie unterstützt und – ganz wichtig – deren Umsetzung in Projekten stetig vorantreibt. Ob es dazu einen Chief Digital Officer braucht, ob eine einfache Stabsstelle reicht oder aber ob sogar ein neuer Unternehmensbereich für digitale Produkte definiert werden muss, das ist von vielen Faktoren abhängig und jeweils im Einzelfall zu entscheiden. Drittens darf keine Organisation glauben, dass sich die digitale Transformation an den IT-Bereich delegieren lässt. Natürlich sind eine stabile IT-Landschaft, sichere Systeme und die effiziente Betreuung von Nutzern und die Entwicklung neuer Systeme wichtige Faktoren. Darüber hinaus braucht es aber unbedingt auch weitere unternehmerisch Denkende, die sich mit neuen Prozessen, Produkten und Geschäftsmodellen beschäftigen. Typischerweise ist Letzteres nicht das Kerngeschäft von IT-Bereichen – und es ist beispielsweise auch nicht das Kerngeschäft der IT-Bereiche von Handelsunternehmen geworden.


          Passende Rahmenbedingungen

          Das Gesundheitswesen ist zwar kein einzelnes Unternehmen mit Topmanagement, sondern ein komplexes Ökosystem, bestehend aus Patienten, Ärzten, Pflegekräften, Krankenhäusern und Praxen, Laboren, Krankenkassen, Apotheken und weiteren Akteuren. Hier hilft ein Blick auf Unternehmen der Medienindustrie, die ebenfalls in komplexen Ökosystemen und Wertschöpfungsketten organisiert sind und eine spezielle Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung wahrnehmen –  auch sie haben ihre Prozesse und Wertschöpfungsketten digital transformieren können.

          Natürlich betreffen notwendige Veränderungen bestehende Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle. Diese gelingen aber nur, wenn der Rahmen in einer Organisation dafür stimmt. Vier Aspekte sind hier entscheidend. Einmal geht es um Struktur und Kultur. Es muss gewährleistet sein, dass die in allen Teilen einer Organisation vorhandenen Ideen für digitale Innovationen systematisch aufgegriffen werden – Ideen allein aus der Unternehmensleitung heraus reichen nicht. Genauso müssen Eigeninitiative und die schnelle, aufgabenbezogene Bildung von Projektteams Teil der Kultur sein. Statische Strukturen, die manche Bereiche des Gesundheitswesens durchaus zu prägen scheinen, machen einen digitalen Wandel dagegen sehr schwer. Drittens geht es um Kompetenzen. Nicht jeder Mitarbeiter einer Organisation muss zum Programmierer ausgebildet werden, wie auch in Medienunternehmen oder im Handel nur ein kleiner Teil der Mitarbeiter mit dem Coding beschäftigt ist. Gleichwohl investieren diese Unternehmen verstärkt in die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter, interessante Entwicklungen im Digitalbereich zu verstehen und die Potentiale für das Unternehmen besser erkennen zu können. Viertens geht es selbstverständlich um die IT-Landschaften eines Unternehmens. Gerade im Bankensektor sieht man aktuell sehr deutlich, welche Hürden veraltete IT-Landschaften für den dringend benötigten digitalen Wandel sein können: Kann man neue Prozesse und Produkte nicht in der IT-Landschaft abbilden, dann bleiben sie nichts als eine Idee. Erforderlich ist daher, dass Unternehmen in ihre IT-Landschaft investieren – was viele Akteure im Gesundheitswesen anscheinend vernachlässigt haben.


          Nur Win-win führt zum Erfolg

          Nicht nur im Medien-, Banken-, Handels- und Automobilbereich haben massive Angriffe auf bestehende Geschäftsmodelle zu der Erkenntnis geführt, dass das Verständnis und die Gestaltung digitaler Dienste, Prozesse und Geschäftsmodelle für die Unternehmen überlebenswichtige Notwendigkeiten darstellen. Konkurrenz in dieser Aggressivität zeigt sich im Gesundheitswesen heute erst in Randbereichen, was unter anderem den bestehenden Machtstrukturen geschuldet sein könnte. Die Digitalisierung bietet gleichwohl ein enormes Potential für das Wohl der Patienten, für deren Gesundheit, deren Bequemlichkeit und die Finanzen.

          In Branchen wie der Automobilindustrie mit zunehmender Dienstleistungsorientierung lässt sich klar beobachten, dass nur Win-win-Situationen zu echten Veränderungen führen: Die digitale Transformation endet nicht an der Unternehmensgrenze. Ganz im Gegenteil! Vielmehr ist die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen unbedingt erforderlich – man denke nur zum Beispiel an den standardisierten datenschutzkonformen Austausch von Daten oder die gemeinsame Nutzung von Ressourcen. Unabhängige und mächtige Akteure mit heute isolierten und politisch abgesicherten Wertschöpfungsketten, die im Gesundheitswesen stark vertreten sind, werden sich nur dann auf das Spiel einlassen, wenn sie von den Innovationen auch einen konkreten Vorteil erwarten. Das erfordert unternehmerischen Mut an allen Stellen. Funktionierende Ökosysteme können nicht auf der grünen Wiese geplant werden. Sie sind auf die Innovationskraft und die weitsichtige Bereitschaft zur Zusammenarbeit der einzelnen Akteure zum Wohl aller angewiesen.


          Gestalten durch Aufbrechen von Silos

          Agilität prägt die Digitalisierung entscheidend. Eine branchenübergreifende zentrale Erkenntnis ist, dass Silos – Datensilos, Governancesilos, Machtsilos, Wertschöpfungssilos – den zentralen Hemmschuh für digitale Innovationen darstellen und angesichts aggressiver Konkurrenz Organisationen über kurz oder lang in die Defensive drängen und letztlich massive unternehmerische Probleme zeitigen werden. Das Zerschlagen solcher Silos, Mut zu Kooperation und Ökosystemen mit neuen flexiblen Geschäftsmodellen sowie die ernsthafte Berücksichtigung von Datenschutz nicht als Verhinderungsargument sind eine Mammutaufgabe für alle beteiligten Akteure. Gleichzeitig erscheint das Potential der Digitalisierung für das Wohl der Patienten unermesslich, so dass sich die Mühe sicher lohnt.

          Thomas Hess ist Professor für BWL und Wirtschaftsinformatik an der LMU München.

          Alexander Pretschner ist Professor für Informatik an der TU München. Beide sind Mitglieder des Direktoriums des neu gegründeten Bayerischen Forschungsinstituts für digitale Transformation.

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