Tagebuch aus Lindau : Mein Held aus der Atacama-Wüste
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Tagebuch-Autorin Sibylle Anderl trifft ihr Idol, den britischen Supraleiter-Pionier und Nobelpreisträger Brian Josephson. Bild: S. Anderl
Sie ist eine von 40 000 Bewerbern: Sibylle Anderl, 28, Studium der Physik und Philosophie in Berlin und nun in Bonn, hat für uns ein Tagebuch über ihr Abenteuer Lindau geschrieben.
Freitag, 25.Juni - noch zwei Tage
Das Treffen in Lindau ist offenbar nicht nur zukunftsweisend in Hinsicht auf die hohe Dichte der versammelten High Potentials, es ist auch zukunftsweisend in Hinsicht auf deren kommunikative Vernetzung: habe mich heute beim „SPREE community tool provided by Deutsche Telekom“ angemeldet. Ziel der Webanwendung ist es, Interessen und Expertise unter den Teilnehmern in Lindau auszutauschen. Ich beschreibe mein Expertentum mit den Schlagworten „physics, astrophysics, nonlinear dynamics, shocks in the ISM, philosophy, philosophy of science, philosophy of mind“ und erhalte zwei Stunden später bereits die erste Expertenfrage an mich von „Turion“, Subject: What is the theory of everything? Frage mich kurzzeitig, ob ich mich aus Versehen als Nobelpreisträger angemeldet habe. Antworte schließlich: „The underlying fundamental question (philosophical though) would be: why do we expect such a theory of everything to exist and how justified is such an expectation?“ und hoffe, Turion damit erstmal mit philosophischen Grundsatzüberlegungen beschäftigt zu haben. Meine persönliche Lieblingsfrage entdecke ich, als ich daraufhin die Liste aller überhaupt gestellten Fragen durchgehe: „What is a good Chinese restaurant in Lindau?“. Was habe ich bei der Angabe meines Expertenwissens falsch gemacht, dass diese Frage von der Telekom-Software nicht an mich weiter geleitet wurde?
Sonntag, 27.Juni - Ankunftstag
Als Physiker kennt man sich aus mit Kräften. Man weiß zum Beispiel, dass auf 7.5 kg auf der Erde eine Gewichtskraft von etwa 75 Newton wirken. 75 Newton beschreiben eine recht starke Kraft gen Erdboden. Das ist theoretisches Wissen. Zu praktischem Wissen wird es erst, wenn man direkt nach der Ankunft und Registrierung die Tagungstasche abholt, und diese kaum heben kann, weil man plötzlich unverhofft zum stolzen Besitzer eines 7.5-kg-schweren Nobelpreisträger-Fotobuchs geworden ist, das die blaue Tagungstasche im Format einer DJ-Plattentasche komplett ausfüllt. Die vor dem Treffen an alle Teilnehmer versandte Bitte, man möge beim Packen seiner Tasche bitte berücksichtigen, dass man Platz für ein 13.9 x 13.9 inches großes und eben 7.5 kg schweres Buch benötigen wird, war überraschend also doch weder Druckfehler noch Witz. Wie alle anderen Nobelpreisträgerbuch-Neubesitzer wanke ich keuchend durch die Lindauer Sommerhitze, während ich darüber sinniere, noch nie ein annähernd schweres Buch besessen zu haben. Und erst Recht noch nie mit einem auch nur annähernd schweren Buch auf Reisen gewesen zu sein. Freue mich schon auf die Rückreise.
In der Eröffnungszeremonie wird zum ersten Mal wirklich deutlich, mit was für Maßstäben wir hier bei diesem Treffen zu tun haben: ganze Sitzreihen sind für die Nobelpreisträger reserviert, die daran zu erkennen sind, dass sie blaue Bänder um den Hals haben, während wir Nachwuchswissenschaftler grau markiert sind. Überall trifft man auf prominente Gesichter: „Ist das nicht...“ „Sieht der nicht aus wie...“. Gott sei dank gibt es ein dickes Begleitbuch zum Nobelpreisträger nachschlagen und Lebenswerk nachlesen.