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Soziale Systeme : Die Gesellschaft ist an Vergleichssucht erkrankt

  • -Aktualisiert am

Wie sinnvoll ist es, sich mit anderen zu Vergleichen? Bild: dpa

Leistungsträger an ihrem Erfolg zu messen ist in überraschend vielen Fällen keine gute Idee. Welcher Anwalt stünde dann noch bereit, um die Prozesspartei mit den jeweils schlechteren Karten zu vertreten?

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          Seit Jahrzehnten schon experimentieren ganz unterschiedliche Organisationen mit Formen des quantifizierten Leistungsvergleichs. Universitäten vergleichen ihre Forscher nach der Zahl ihrer Publikationen und der Summe eingeworbener Drittmittel – und von der Politik werden die Universitäten nach diesen und anderen Kriterien auch miteinander verglichen. Auch Schulen beziffern alle Jahre wieder den Anteil ihrer Einser-Abiturienten, der unterdessen natürlich angestiegen sein sollte, auch wenn dies auf Dauer nicht ohne Absenken der Standards erreicht werden kann. Und von den Geschäftsberichten der großen Wirtschaftsunternehmen wird erwartet, dass sie in immer kürzeren Abständen die Kennziffern ihrer Erfolge und Misserfolge publik machen. Kritiker dieser Tendenz greifen bereits zu medizinischer Terminologie und sehen die moderne Gesellschaft an Comparatitis, also Vergleichssucht, erkrankt.

          Die Kennziffern werden nicht etwa um der besseren Übersicht willen erhoben. Sie sind vielmehr typisch mit Aussichten auf positive oder negative Sanktionen verknüpft. Das entspricht einer der populärsten Vorstellungen über Arbeitsmotivation. Ihr zufolge müssten die Leute die Erfolge und Misserfolge ihrer Arbeit im eigenen Geldbeutel spüren, weil sie sich anders nicht wirklich anstrengen, sondern nur ihrer natürlichen Trägheit anheimfallen würden. Durch Zahlung von Erfolgsprämien könne der Einzelne in seinen handfesten Interessen angesprochen und zu vermehrter Bemühung angereizt werden, und bei Misserfolgen müssten ihm Kürzungen am Gehalt, in Fällen erwiesener Kollektivschuld auch am Budget seiner Organisation drohen.

          Das alles klingt sehr viel plausibler, als es ist. Sanktionen setzten zum Beispiel voraus, dass Leistungsdifferenzen auf mangelnde Anstrengung zurechenbar sind. Aber welche Anstrengungen wären es denn, die einer Problemschule zu den Erfolgsquoten eines bürgerlichen Gymnasiums verhelfen würden? Und welchen positiven Beitrag könnten Budgetkürzungen in diesem Zusammenhang leisten? Außerdem kann die Betroffenheit in persönlichen Interessen die sachgerechte Entscheidung auch durchaus verzerren. Das jedenfalls ist die These eines intelligenten und lesenswerten Buchs über verschiedene Schäden, die durch die heute übliche Verknüpfung der Leistungsvergleiche mit sanktionierenden Absichten ausgelöst werden. Geschrieben hat es der amerikanische Historiker Jerry Z. Muller, aber manche seiner Argumente sind auch den Soziologen geläufig.

          Lehrer erreichen bei weitem nicht jeden Schüler

          In vielen Berufen darf man sich von möglichen Misserfolgen nicht abschrecken lassen. Alle Anwälte verlieren, statistisch gesehen, jeden zweiten Prozess, alle Ärzte verlieren gelegentlich einen ihrer Patienten. Lehrer erreichen bei weitem nicht jeden Schüler, Polizisten klären nicht jeden Fall auf, und auch Wissenschaftlern gelingt keineswegs jeder Beweis oder Nachweis, um den sie sich in ihren großangelegten Projekten bemühen. Solche Praktiker brauchen nicht nur Mut, sondern auch Gleichmut im Ertragen von Misserfolgen. Muller schließt daraus, dass ihre finanzielle Situation nicht allzu konkret von ihrer Erfolgsbilanz abhängig sein darf, weil die unsicheren Fälle sonst gar nicht mehr angepackt würden. Zu den Unkosten eines forcierten Erfolgsdrucks gehört eine konservative Orientierung am Sicheren und Bewährten, die in den Misserfolgen, die sie fürchtet, auch den darin gelegenen Lernchancen ausweicht.

          Es sagt sich ja leicht, dass die Anwälte streng nach ihren Erfolgen bezahlt werden sollten. Aber angenommen einmal, sie würden es: Wer stünde dann noch bereit, um die Prozesspartei mit den jeweils schlechteren Karten zu vertreten? Ein erfolgsabhängig entlohnter Wissenschaftler wäre gut beraten, in seinen Forschungsvorhaben nichts zu riskieren, sondern nur nachzurechnen, was man im Großen und Ganzen schon weiß. Und auch der noch so gute Mediziner würde, unter Erfolgsdruck gesetzt, seine Heilkunst nur noch bei Routineoperationen anwenden und alles, was möglicherweise schiefgehen kann, nach unter oder nach außen hin abschieben.

          Risikoscheu und Anträge

          Muller zeigt an Untersuchungen über amerikanische Krankenhäuser, dass die Verständnislosigkeit für das Unvermeidliche mancher Misserfolge sich dort bereits in genau diesem Sinne auszuwirken beginnt. In Deutschland wiederum gibt es für Forschungen, deren Erfolg nicht schon vorab feststeht, ein eigenes Antragsformat – ein Umstand, der einiges über die Risikoscheu der anderen Anträge verrät.

          Die Nivellierung der Standards, die Überschätzung des Faktors Anstrengung und die Flucht ins Sichere und Bewährte – all diese Nachteile machen aus Muller keinen grundsätzlichen Gegner der Leistungsvergleiche. Richtig eingesetzt, könnten sie großen Organisationen helfen, Schwachstellen und verbesserungsfähige Leistungsniveaus zu identifizieren. Die dafür nötigen Leistungsmessungen setzten aber voraus, dass man auch unbefriedigende Werte mitteilen kann, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Wo das nicht der Fall ist, sei mit schönfärberischer Berichterstattung zu rechnen.

          Jerry Z. Muller, The Tyranny of Metrics, Princeton 2018, University Press

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