Soziale Systeme : Mit der Monatskarte durch Duisburg
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Ein sozialer Ort - und zwar was für einer. Bild: Jonas Wresch
Ein epistemisches Vehikel: Die Straßenbahn als Sehnsuchtsort für Stadtsoziologen.
In der Sozialforschung gibt es mitunter sehr verschiedene Wege, dem Fremden zu begegnen. So kann man entweder hinausgehen in unbekannte Gefilde oder man bleibt beim vertrauten Alltag und verstellt ihn mit einem Dickicht von Fremdwörtern wie zum Beispiel „Interdependenzgeflecht“, „Navigationspraxis“ oder „Figurationsfeld“. Die erstaunliche Fähigkeit der Menschen in solch einem Alltag zurechtzukommen, wird damit zum Geheimnis, das natürlich nur die Wissenschaft lösen kann.
Etwa in Duisburg bei der Fahrt mit der Straßenbahnlinie 903 von Dinslaken nach Hüttenheim. Die Soziologen Jörg Hüttermann und Tino Minas haben sich mehrere Monate auf dieses Abenteuer eingelassen, um in jenem „eigenlogischen Interaktionsfeld“ erstmals das „Skript des Straßenbahnfahrens“ zu schreiben und dabei zu zeigen, dass dieser Text nicht nur von „makrostrukturellen Kräften“, sondern auch von „kontextbehafteten Interakteuren“ verfasst wird. Soll heißen: Man versteht diese Stadt nicht, wenn man nur nach den Folgen von Modernisierung, Technisierung und Globalisierung fragt. Man muss auch wahrnehmen, was an Tradition, Geschichte und Eigenem geblieben ist.
Fährst du noch oder forschst du schon?
Eben Duisburg: Ruhrpott, Kohle, Stahl, Schimanski. Das alles balle sich in der Straßenbahn zu einer kritischen Masse. Die Bahn sei zwar kein Ort im üblichen Sinne wie etwa ein Fußballstadion oder ein Betrieb, aber ihren Benutzern dränge sich der Mitreisende in seiner Besonderheit auf, schreiben Hüttermann und Minas. Da träfen Senioren auf Jugendliche, Wohlhabende auf Obdachlose, die Verschleierte sitze der religiös Gleichgültigen gegenüber, der Stadtrand begegne dem Problemviertel. In der Flüchtigkeit der Begegnung offenbarten die Straßenbahnnutzer einander ihre Identität, Bahnfahren werde so zu einer Unterrichtung in Eigentümlichkeit. So vernetze die Bahn, was die Kräfte des Strukturwandels zwar nicht einebnen, aber doch sozial auseinandertreiben: Berufe, Kulturen, Religionen, Modestile, Sprachen, Heimaten. Nur noch der öffentliche Personennahverkehr als „mobiler Lernort“ verbinde, was in Duisburg längst auseinanderwachse. Sie sei darum für die Entwicklung lokaler Intergruppen-Beziehungen von großer Bedeutung, und zwar „in der Straßenbahn und um die Straßenbahn herum“.
Nun verlangen auch öffentliche Verkehrsmittel das Beherrschen elementarer Kompetenzen. Egal, ob man nun in Zürich, Berlin oder San Francisco Tram fährt, überall sollte man zum Beispiel wissen, dass auf Bahnsteigen „Reihenpositionen das Recht begründen, zu einem bestimmten Zeitpunkt einzusteigen“ und „Pulkfolgen Sitzplatzrechte generieren“: Wer als Erster einsteigt, hat freie Platzwahl. Gegenstände erschweren die „Navigation der Körper.“ Und immer gilt die Regel der Kollisionsvermeidung durch Distanzmaximierung.
Dieseits schlechthinnigen Trambahnfahrens
Doch der ethnographisch arbeitenden Soziologie geht es nicht um solche Allgemeinheiten – auch wenn sie großes Aufheben zum Beispiel davon macht, dass Leute in der Tram am liebsten in Ruhe gelassen werden („der prekäre Aggregatszustand urbaner Indifferenz“). Vielmehr versteht sich diese Variante der Gesellschaftswissenschaft als Anwalt des Besonderen und Begrenzten. Denn zwischen Duisburg-Marxloh und Mülheim an der Ruhr liegen Welten. Begriffe wie Moderne, Metropole oder Urbanität suggerieren also eine Gleichheit von Lebenswelten, die es nicht gibt – und diese Einsicht, so glauben Hüttermann und Minas, verdanken wir der Straßenbahn als „epistemischem Vehikel“. Wer die Tram nimmt, kann seinen „lokalräumlichen Kontext“ nicht zu Hause lassen. Aus „schlechthinnigem Straßenbahnfahren wird so erst Straßenbahnfahren in Duisburg.“
Man steigt daher auch niemals zweimal in dieselbe Bahn. Alles ist lokal, verschieden, begrenzt. Im Unterschied natürlich zu dieser Erkenntnis selbst, die für alle Straßenbahnen gilt. Und in genau dieser Universalität unterscheidet sich Wissenschaft eben vom Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel.
Duisburg ist nicht genug.
Aber Vorsicht beim Einsteigen! Die Autoren warnen die Stadtsoziologie vor der naiven Annahme, sie müssten jetzt nur noch Bus, Metro oder Tram fahren, um „Struktur und Dynamik der stadtgesellschaftlichen Intergruppen-Figuration zu erfassen“. Von wegen. Vielmehr stelle sich nun die ungeheure und vermutlich unabschließbare Aufgabe, sämtliche urbanen Figurationsfelder in ihren Variationen zu erforschen. Das kann das lokale Fußballgeschehen sein, aber auch das ganze Feld rund um Liebe, Flirt und Partnerschaft.
Wirklich in allen Städten und um alle Städte herum? Die Autoren räumen ein, dass es schwierig wäre, allein die dafür notwendigen Ressourcen zu akquirieren. Und doch ließe sich nur so die Frage abschließend beantworten, in welchem Verhältnis „externe makrostrukturelle Kräfte und mikrosoziale Interaktionen“ stehen. Erst dann würde aus Soziologie in Duisburg wohl auch schlechthinnige Soziologie.
Literatur
Jörg Hüttermann, Tino Minas: „Mit der Straßenbahn durch Duisburg. Der Beitrag indifferenzbasierter Interaktion zur Figuration urbaner Gruppen“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 44., Heft 1, Februar 2015.