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Stimmphysiologie : Singen können

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Wie geht das nur? Jose Carreras bei einer stimmphysiologischen Demonstration

Wie geht das nur? Jose Carreras bei einer stimmphysiologischen Demonstration Bild: dpa

Wo entsteht der stimmliche Wohlklang, der die Sommertheater von Bayreuth und Salzburg füllt? Nicht an den Stimmbändern, sondern in dem, was der Fachjargon den Vokaltrakt nennt: eine stimmphysiologische Erläuterung.

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          Der erste Auftritt ist nicht zu überhören. Mit einem kräftigen Schrei, etwa in Höhe des Kammertons a', signalisiert das Neugeborene den Eltern etwas ganz Wesentliches: robuste Atemfunktionen. „Das Gebrüll selbst ist dabei zunächst nur ein kanalisiertes Abfallprodukt des Körpers, nämlich ausgeatmete Luft“, sagt Michael Fuchs, Stimmspezialist am Universitätsklinikum Leipzig und ehemaliges Mitglied des Thomanerchors. Aus dieser Abluft wird freilich durch das feine Zusammenspiel verschiedener Körperteile etwas höchst Erstaunliches: der jedem Menschen eigene Klang seiner Stimme, welcher anderen nicht selten mehr über die Gemütslage des Sprechers verrät als der Inhalt des Gesprochenen.

          Ursprung jedes stimmlichen Signals, das die gesamte vordere Kopfpartie eines Menschen an die Umgebung abstrahlt, sind zwei unscheinbare, beim Erwachsenen etwa daumennagelgroße Vorsprünge der seitlichen Kehlkopfwand. Ein Instrumentenbauer würde das Material, aus dem diese sogenannten Stimmlippen bestehen, kaum verwenden, so schwammig und weich ist es. Dennoch können diese beiden Segel aus Muskeln, Bindegewebe sowie einer Hautschicht die Luftwege vollständig verschließen und dadurch vibrieren wie kein anderes Körperteil.

          Vibrierende Luft

          Dabei schwingt entweder die gesamte Stimmlippe oder - bei hohen Tönen - nur deren Hautanteil. „Diese innere Haut liegt auf dem Bindegewebe sehr beweglich auf und begrenzt die Stimmlippe nach außen als eine robuste und flexible Zellschicht“, sagt Michael Fuchs. Wenn wir zum Sprechen oder Singen ansetzen, schließen sich die Stimmlippen zunächst, die während des Einatmens noch weit geöffnet waren. Steigender Druck treibt sie wieder ein wenig auseinander. Dadurch fällt der Druck und die Stimmlippen schließen und öffnen sich in rascher Folge. Das alles geschieht sehr schnell: 50 Mal in der Sekunde bei tiefen Tönen und bis zu 2500 Mal in der Sekunde bei sehr hohen wird die durchströmende Luft verdichtet und wieder verdünnt - eine Schallwelle entsteht.

          Singen können Bild: F.A.Z. - Döring

          Damit daraus auch ein klarer Ton wird, müssen die Schließbewegungen die Stimmritze stets komplett abdichten. Einem ausgebildeten Sänger gelingt dies in allen Tonlagen, andernfalls würde die Stimme hauchig klingen. Beteiligt ist auch hier die bewegliche Stimmlippenhaut, die sich, einer Gummidichtung ähnlich, in den Spalt bewegt. Zudem zeigt sie eine für den Klang wichtige wellenartige Eigenbewegung. Reibungslos läuft alles außerdem nur dann, wenn die Oberflächen gut befeuchtet sind. Kein Wunder also, dass trockene Luft den Redefluss hemmt. Die Stimmlippen selber können zwar keinen Schleim produzieren. Doch dafür sorgen Zellen der Nachbargewebe, die neben zäher Flüssigkeit auch Abwehrstoffe abgeben und so das Kehlkopfinnere gleichzeitig vor Infektionen schützen.

          Die Wiege des Klangs

          Würde man sich den Stimmlippenton nun direkt an seinem Produktionsort anhören, wäre man enttäuscht. Er klänge rauh und schnarrend. „Dieser nicht sehr schöne Ton muss noch akustisch verändert werden“, erklärt Michael Fuchs. Die wunderbare Verwandlung der Stimmlippenschwingungen in Wohlklang geschieht durch all das, was der Körper oberhalb des Kehlkopfes noch zu bieten hat: durch Rachen, Gaumen, Mundhöhle, Zähne, Zunge, Nase, Nebenhöhlen und Lippen, also das, was man im Fachjargon „Vokaltrakt“ nennt. Die baulichen Gegebenheiten dort, aber auch der Umgang mit dem Vokaltrakt, entscheiden zusammen mit der Feindosierung des abgegebenen Luftstromes über die Qualität einer Stimme.

          Einen ausgebildeten Sänger kann der Facharzt bei einem Blick allein auf die Stimmlippen daher zunächst einmal nicht erkennen. „Diese können bei Plácido Domingo genauso aussehen wie bei Otto Normalverbraucher. Es ist also nicht so, dass ein Sänger so etwas wie den Oberarm eines Bodybuilders in der Kehle hätte“, sagt der Musikwissenschaftler Christian Lehmann, Stimmbildner bei den Regensburger Domspatzen. Allerdings sind die Effekte eines Gesangsunterrichts oder Stimmtrainings bekanntlich durchaus hörbar und dazu auch physikalisch messbar. „Das Ziel einer Schulung ist, eine Stimme mit möglichst viel Klangfülle und Tragfähigkeit zu erzeugen, ohne dabei mit großem Aufwand und Druck zu arbeiten“, sagt Lehmann, der auch als Stimmtrainer und Gesangslehrer in München arbeitet.

          Stimmbruch

          Sprechen oder Singen können wir nur, weil Nerven und Muskeln blitzschnell für die richtigen Einstellungen der beteiligten Körperteile sorgen. „Die Koordinationsfähigkeit, also die Abstimmung der vielen einzelnen Schritte, kann trainiert werden“, erklärt Lehmann. Bei den Regensburger Domspatzen hat der Münchner es mit jungen Männern nach dem Stimmbruch zu tun. Nachdem die Jungen etwa ein bis zwei Jahre ausgesetzt haben, erhalten sie Stimmbildung in sogenannten Mutantengruppen, ein Wort, das sich von „Mutation“ ableitet, dem Fachausdruck für den adoleszenten Stimmwechsel. Dabei wird mit vorsichtigen Übungen und leichteren Liedern geprüft, wie weit die Stimme schon wieder einsetzbar ist. Probleme mit der Feineinstellung sind dabei normal, ist doch der Kehlkopf unter der hormonellen Umstellung rasch gewachsen: Die Stimmlippen werden einen guten Zentimeter länger, und die Stimme senkt sich dadurch um etwa eine Oktave.

          „Die Stimme gewinnt erst nach und nach wieder an Umfang“, sagt Christian Lehmann. Es gilt daher erneut, ein Gefühl für sie zu entwickeln, Töne gezielt anzusteuern und zu vermeiden, den Kehlkopf nach oben zu drücken, wenn höhere Töne gesungen werden. Letzteres beobachtet der Stimmbildner häufig bei Popstars, die gern mit dieser physiologisch gesehen eigentlich ungesunden Stimme singen. Schlechte Vorbilder also für Kinder. Dem Nachwuchs unter fachkundiger Anleitung Erfahrungen im richtigen Umgang mit der eigenen Stimme zu ermöglichen, ist hingegen sehr sinnvoll. „Kinder, die im Chor singen, haben später in stimmintensiven Berufen die besseren Karten, weil sie neben einer verbesserten Leistung ihre Stimme sensibler wahrnehmen“, sagt Michael Fuchs, der dazu in Zusammenarbeit mit Kinder- und Jugendchören am Universitätsklinikum in Leipzig eine Studie durchgeführt hat.

          Stress in der Kehle

          Auch die erwachsene Stimme kann sich noch ändern, und nicht immer zu ihrem Vorteil. Technische Fehler, Überanstrengung oder mangelnde Schonung bei Infekten können dazu führen, dass sie nicht mehr klar, voll, elastisch und tragend, sondern eher hauchend, dünn, spröde oder gepresst klingt. Auch hormonelle Schwankungen erfordern eine gewisse Rücksichtsnahme. Früher wurden Sängerinnen zeitweise von ihrer Auftrittspflicht befreit, weil sich kurz vor und während der Menstruation vermehrt Wasser in das Stimmlippengewebe einlagert und die Stimme in dieser Phase weniger leistungsfähig sein kann.

          Besonders stressempfindlich sind die Zellschichten an der Oberfläche der Stimmlippen. Und beim normalen Stimmgebrauch sind es die sehnenartigen Befestigungsstrukturen am Ende der Stimmlippen, die mechanisch am stärksten belastet sind. Das haben Computersimulationen gezeigt. Bei Fehlgebrauch jedoch verlagert sich die Beanspruchung: Vibrationen, Luftstrom und das immerwährende Zusammenschlagen strapazieren die Stimmlippen stärker in der Mitte. Das Gewebe reagiert darauf nicht selten mit Verdickungen. Dann wird Wasser einlagert, Knötchen oder gar Vernarbungen bilden sich und schränken die Flexibilität stark ein. „Es ist wie bei den Schwielen, die sich nach dem Holzhacken an den Händen einstellen“, sagt Michael Fuchs. „Der Körper versucht tieferes Gewebe zu schützen und lagert Wasserpolster ein.“ Diese organischen Veränderungen erzeugen unerwünschte Geräusche, beispielsweise Heiserkeit, weil sie die Vibrationseigenschaften und den Stimmlippenschluss verändern. Verschwinden Knötchen und Verdickungen nicht von alleine oder durch eine Stimmübungsbehandlung beim Logopäden, können sie chirurgisch entfernt werden.

          Stimmtraining nicht nur für Sänger

          Neuerdings bietet die Stimmchirurgie sogar die Möglichkeit eines „Anti-Aging“. Mit zunehmendem Alter erschlaffen Muskeln und Bindegewebe, die Knorpel des Kehlkopfes verkalken, und die Oberfläche der Stimmlippen verändert sich, was deutliche Qualitätseinbußen zur Folge hat.. „Um die Elastizität wieder zu erhöhen und den Stimmlippenschluss zu verbessern, kann man zum Beispiel Collagen einspritzen oder eine Operation am Kehlkopfgerüst vornehmen“, erläutert Fuchs.

          Damit gar nicht erst zum Skalpell gegriffen werden muss, empfehlen der Leipziger Facharzt und viele andere Experten, ein Stimmtraining schon in die Ausbildung solcher Berufe einzubauen, bei denen das Gewebe im Kehlkopf besonders gefordert ist. „Die Stimmlippen eines Lehrers haben sich am Ende eines Arbeitstages durch Vibrationen kilometerweit hin und her bewegt - deutlich mehr als die Handgelenke eines Bauarbeiters, der mit dem Presslufthammer gearbeitet hat“, sagt Bernhard Richter, Leiter des Zentrums für Musikermedizin in Freiburg, der eine Spezialsprechstunde für Lehrer anbietet. Mehr als die Hälfte der Lehrer habe deshalb Stimmprobleme, sagt Richter. Dieses mache sich durch eine rasche Ermüdung der Stimme oder einen veränderten Klang bemerkbar. Sinnvoll erscheint es daher auch, wenn sich angehende Pädagogik- oder Gesangsstudenten vorab auf ihre Stimmtauglichkeit untersuchen lassen - ein Test, der in Ostdeutschland vor der Wiedervereinigung sogar vorgeschrieben war.

          Michael Fuchs führt solche Untersuchungen in der HNO-Klinik in Leipzig durch. „Wie sieht der Stimmapparat aus, welches Schwingungsverhalten zeigen die Stimmlippen?“ Das sind die Dinge, nach denen er als Erstes schaut. Zum Beispiel mit Hilfe einer speziellen Kehlkopfspiegelung, bei der die Stimmlippenschwingungen mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommen werden. Außerdem wird geprüft, wie laut, leise, hoch oder tief gesungen und wie lange ein Ton ausgehalten werden kann. Der Klang wird anschließend möglichst objektiv beurteilt und die Zufriedenheit des Untersuchten mit seiner eigenen Stimme durch einen Fragebogen erfasst. Bei manchen stelle sich dann heraus, dass sie sich doch lieber einen anderen Beruf suchen sollten. Wieder andere hätten zwar eine prinzipiell geeignete, aber durchaus verbesserungswürdige Stimme. Auch hier empfiehlt Fuchs ausreichendes Training, um Erkrankungen des Stimmapparates rechtzeitig vorzubeugen.

          Nur ein bisschen heiser?

          Denn nicht jeder, der an der Stimme laboriert, gesteht sich das auch ein. Bin bloß heiser, sagt man dann. „Stimmprobleme werden oft als eigenes Problem oder Schwäche wahrgenommen. Auch das soziale Umfeld tut sich schwer damit, ihnen einen echten Krankheitswert zuzubilligen“, sagt Bernhard Richter.

          Deshalb kommt der Entwicklung neuer Methoden für die stimmphysiologische Diagnostik auch so eine große Bedeutung zu. Der Mathematiker Michael Döllinger, der die Forschergruppe „Strömungsphysikalische Grundlagen der menschlichen Stimmgebung“ an der Universität Erlangen-Nürnberg leitet, hat dazu die Schwingungseigenschaften von Stimmlippen an isolierten Kehlköpfen, aber auch an nachgebildeten Modellen erforscht. Er hat daraus ein Computerprogramm mitentwickelt, bei dem Hochgeschwindigkeitsaufnahmen in ein stehendes Farbbild umgerechnet werden. Da eine Stimme umso gesünder ist, je periodischer und symmetrischer sie schwingt, kann der geübte Arzt bei einem Blick auf ein solches sogenanntes Phonovibrogramm Fehlfunktionen ausmachen. „Das ist die erste Methode, mit der man die Hochgeschwindigkeitsaufnahmen objektiv auswerten kann“, sagt Michael Döllinger. Das Verfahren wird seiner Meinung nach zukünftig in der Klinik immer mehr zum Einsatz kommen, weil es die Erfolge operativer Eingriffe oder sogar die von Stimmtherapien messbar macht. Doch dürfte auch eine solchermaßen ausgestattete Stimmmedizin kaum in der Lage sein, einem Opernstar, der der Optik, nicht des Organs wegen Karriere macht, operativ zu einem Caruso-Sound zu verhelfen. Wenn das doch einmal möglich ist, dann wäre das natürlich der letzte Schrei.

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