Molekulares Kino : Proteine im Gewitter der Röntgenblitze
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Blick in den 3,4 Kilometer langen Tunnel des europäischen Freien-Elektronen-Lasers EuXFEL in Hamburg Bild: dpa
Biologen und Pharma-Entwickler träumen schon länger davon, komplexe Moleküle bei ihren biochemischen Treiben zu filmen. Der europäische Röntgenlaser XFEL in Hamburg macht das nun möglich.
Nur eine winzige Verschiebung von Elektronen kann darüber entscheiden, ob der Patient nach einer Routineoperation am Knie das Hospital unversehrt oder mit einem amputierten Bein verlässt. Ein drastisches Beispiel, zugegeben, aber ein zuweilen zutreffendes beim Thema multiresistente Bakterien. Gegen die können auch Reserveantibiotika nichts mehr ausrichten, die mit den Penicillinen verwandt sind. Deren Waffe, ein molekularer Beta-Lactam-Ring, mit dem sie ein Bakterium am Aufbau seiner Zellwand hindern, ist wirkungslos geworden. Die resistenten Erreger verfügen über ein Enzym aus der Gruppe der Beta-Lactamasen, das den Lactam-Ring zerschneidet und so das Antibiotikum entwaffnet. Genau dies geschieht bei der subtilen Verschiebung von Elektronen. Um die Funktionsweise des Enzyms verstehen zu können, muss man sein Agieren im Detail und in Zeitlupe anschauen, ähnlich wie in der Videoanalyse eines im Strafraumgewühl verdeckten Torschusses. Gelänge dies, könnte die Forschung gezielt neue, wirksamere Antibiotika entwickeln.
Leider lässt sich die Vergrößerung eines Lichtmikroskopes nicht einfach hochdrehen, bis das Treiben der Biomoleküle atomgenau sichtbar wird. Lichtwellen sind mit Hunderten von Nanometern Wellenlänge viel zu langwellig dafür. Sie lassen sich von kleinen Molekülbausteinen ebenso wenig beeindrucken wie die Meeresdünung von einer schwimmenden Möwe. Typische Atomdurchmesser sind rund tausendmal kleiner als Lichtwellen. Zwar sind viele Biomoleküle Giganten, geht es aber darum, hinter ihre Aktivitäten im lebenden Organismus zu kommen, muss man eben bis zu den Atomen und Elektronen hinunter „zoomen“ können. Dann könnte man sogar den Enzymen multiresistenter Keime dabei zusehen, wie sie Lactam-Ringe zerschneiden.
„In vielen Fällen sind diese Verschiebungen kleiner als der Durchmesser eines Atoms, vielleicht ein halbes Zehntel eines Nanometers“, erklärt Marius Schmidt. Der deutsche Biophysiker von der University of Wisconsin in Milwaukee zählt zu den Pionieren des „Filmens“ molekularer Vorgänge. An Proteinen fasziniert ihn deren Bedeutung für Lebensfunktionen wie Denken, Fühlen, Schmecken, Riechen, Sehen oder muskuläre Bewegungen. Und die meisten Proteine sind Enzyme. „Als Biokatalysatoren wandeln sie beispielsweise die Energie aufgenommener Nahrung in verschiedene andere Energieformen um.“
Enzyme können aber auch Waffen sein. Die Beta-Lactamasen etwa gehören zum Arsenal vieler Bakterien, die uns krank machen können, darunter Mycobacterium tuberculosis, dessen enzymatischen Schlag gegen das Antibiotikum Ceftriaxon Schmidt kürzlich in einer internationalen Kooperation in Zeitlupe und im Detail „filmen“ konnte. Weil es viele verschiedene Beta-Lacatamasen gibt, lohnt es sich, diese Enzymfamilie ins Visier zu nehmen. Schließlich steckt hinter der Molekül-Filmproduktion ein gigantischer Aufwand. Aber welche Kamera macht solche Dreharbeiten möglich?
Mit Lichtgeschwindigkeit durch einen magnetischen Slalomparcours
Zunächst bedarf es hinreichend kurzwelligen Lichts: Röntgenlicht. Das muss zudem extrem hart sein. Das bieten Röntgenlaser. Sie werden seit den 1970er-Jahren entwickelt und stehen nun allmählich zur Verfügung. Herkömmliche Lasertechnik funktioniert nicht mit Röntgenstrahlung. Vielmehr erzeugt man das harte Röntgenlicht mittels eines großen Elektronenbeschleunigers, die Technik heißt Freie-Elektronen-Laser (FEL). Der erste Röntgenlaser, die Linac Coherent Light Source (LCLS) in Stanford, nahm 2009 die Arbeit auf, 2017 ging mit dem European XFEL in Hamburg der weltstärkste Röntgenlaser in Betrieb. Wie die LCLS besteht auch der XFEL im Kern aus einem Linearbeschleuniger, also einer geraden Beschleunigungsstrecke.