Der perfekte Leiter : Supraleiter durchbricht die Temperatur-Schallmauer
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Quantenphysikalische Magie: Ein Hochtemperatur-Supraleiter schwebt über einem Magneten. Das Feld wird aus dem Material herausgedrängt. Bild: University of Rochester, J. Adam Fenster
Ein supraleitendes Material aus Schwefel, Kohlenstoff und Wasserstoff verliert bereits bei Plusgraden seinen elektrischen Widerstand – allerdings nur, wenn man es extrem komprimiert.
Ein supraleitendes Material, in dem der elektrische Strom bei Raumtemperatur ohne jegliche Verluste fließen kann, ist die Vision vieler Festkörperphysiker, Elektrotechniker und Energieforscher. Denn ein solcher perfekter Leiter würde völlig neue technische Möglichkeiten für Stromkabel, Transformatoren oder Hochleistungs-Magnete eröffnen. Man könnte jede Menge Energie sparen, die beim Stromtransport durch eine Kupferleitung üblicherweise verloren geht. Auf teure Kühlmittel wie flüssiges Helium oder flüssigen Stickstoff, die man für handelsübliche Supraleiter benötigt, könnte man getrost verzichten. Was lange unerreichbar schien, präsentieren nun amerikanische Forscher von der Rochester University in New York in der Zeitschrift „Nature“. Sie haben eine Verbindung aus Kohlenstoff, Schwefel und Wasserstoff synthetisiert, die sich tatsächlich schon bei Plusgraden in einen Supraleiter verwandelt. Allerdings trat das Phänomen erst zutage, als die Forscher um Ranga Dias ihre Probe einem extrem hohen Druck aussetzten. An eine praktische Anwendung ist daher derzeit nicht zu denken.
Die Suche nach einem Raumtemperatur-Supraleiter, auch häufig als Heiliger Gral der Festkörperphysik tituliert, hält nun fast schon hundert Jahre an. Der holländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes entdeckte im Jahr 1911, dass Quecksilber seinen Widerstand verlor, als er das Metall mit flüssigem Helium bis auf -269 Grad kühlte. Erst ein halbes Jahrhundert später konnten John Bardeen, Leon Cooper und John Schrieffer das seltsame Phänomen erklären. Danach geht der verlustfreie Stromfluss auf eine Paarung von Elektronen zurück, die am absoluten Temperatur-Nullpunkt, bei -273 Grad, ihre gegenseitige elektrostatische Abstoßung überwinden und paarweise reibungsfrei durch das Kristallgitter wandern. Zwar wurde die Supraleitung auch bei anderen Metallen nachgewiesen, aber es befand sich keines darunter, das bei deutlich höheren Temperaturen zum Supraleiter wurde. Im Jahr 2001 entdeckte man, dass sich die einfache Verbindung Magnesiumdiborid wie ein klassischer Supraleiter verhält. Sie wechselt bereits bei –234 Grad vom normalleitenden in den supraleitenden Zustand.
Wettlauf um die höchste Sprungtemperatur
Es war eine große Überraschung, als Georg Bednorz und Alex Müller 1986 an den IBM-Forschungslabors in Rüschlikon auf einen nichtmetallischen keramischen Supraleiter stießen, dessen Sprungtemperatur bei -238 Grad lag. Die Entdeckung löste eine Jagd nach immer wärmeren Supraleitern aus. Weil der Mechanismus, der hinter der Hochtemperatur-Supraleitung steckt, noch immer weitgehend ein Rätsel ist, sind in der Hochtemperatur-Supraleitung seit den neunziger Jahren keine großen Temperatursprünge mehr erzielt worden. Den Rekord hält noch immer eine Kupferoxidkeramik mit einer Sprungtemperatur von -140 Grad. Als Kühlmittel reicht hier flüssiger Stickstoff.
Hoffnung keimte im Jahr 2004 auf, als der Theoretiker Neil Ashcroft von der Cornell University in Ithaca (New York) für wasserstoffreiche Verbindungen hohe Sprungtemperaturen voraussagte, allerdings nur, wenn man sie während des Abkühlens stark komprimieren würde. Tatsächlich konnten einige Forscher Ashcrofts Prognosen bestätigen, darunter Wissenschaftler um Mikhail Eremets vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz. Sie beobachteten vor sechs Jahren, dass eine Schwefelwasserstoff-Verbindung (chemische Formel: H3S) bei minus 70 Grad supraleitend wurde, wenn man sie einem Druck von rund 1,5 Millionen Bar aussetzte. Zum Vergleich: Im Zentrum der Erde herrscht ein Druck von 3,6 Millionen Bar.
Weil die Experimente mit Schwefelwasserstoff keine weiteren Fortschritte brachten, wandten sich die Mainzer Forscher einer anderen wasserstoffreichen Verbindung zu: Lanthanhydrid (LaH10). Und das mit Erfolg. Im vergangenen Jahr erzielten sie mit dem Übergangsmetall-Hydrid eine Rekord-Sprungtemperatur von -23 Grad.
Wärmster Supraleiter erfüllt alle Kriterien
Damit schienen noch höhere Sprungtemperaturen zum Greifen nah. Und tatsächlich konnten die amerikanischen Materialforscher um Dias den Temperatur-Rekord von Eremets und seinen Kollegen knacken. Bei ihren Experimenten füllten die Forscher ein Pulver aus Kohlenstoff und Schwefel in eine Hochdruckkammer – für derartige Experimente das übliche Instrument – und ließen Wasserstoffgas einströmen. Gleichzeitig strahlten sie einen grünen Laserstrahl ein. Dabei lösten sie eine chemische Reaktion aus, bei der sich Methan und Schwefelwasserstoff bildeten. Über zwei Diamantspitzen, die wie Ambosse wirkten, erhöhten sie in der Zelle schrittweise den Druck auf die Probe. Zunächst bildete sich ein flüssiges Gemisch, das sich allmählich verfestigte und unterhalb von 40.000 Bar einen Kristall formte. Dann pressten die Forscher die Diamanten weiter zusammen und erniedrigten allmählich die Temperatur. Zu ihrer Überraschung mussten sie den Gefrierpunkt nicht unterschreiten. Ihre Probe wurde bereits zuvor bei +15 Grad supraleitend, und zwar bei einem Druck von 2,7 Millionen Bar. Dass tatsächlich der supraleitende Phasenzustand vorlag, zeigten die Forscher um Dias anhand von zwei für Supraleiter typischen Kriterien: Der elektrische Widerstand fiel abrupt auf den Wert Null und ein von außen angelegtes Magnetfeld wurde aus der Probe, die etwa die Größe eines Tintentropfens hatte, herausgedrängt.
Dass das Methan-Schwefelwasserstoff-Gemisch schon bei +15 Grad supraleitend wird, führen Dias und seine Kollegen auf eine besondere kristalline Struktur zurück. Spektroskopische Analysen deuten darauf hin, dass Methan und Schwefelwasserstoff abwechselnd feste Gitterplätze im Kristall einnehmen. In den Zwischenräumen sind Wasserstoffatome eingelagert. Es sind aber auch andere Kristallstrukturen denkbar, so die Forscher.
Weitere Untersuchungen sollen nun ein genaueres Bild vom Kristallaufbau liefern. Dann bekämen die Forscher auch eine bessere Vorstellung vom Mechanismus, der dazu führt, dass sich bei Plusgraden überhaupt stabile Cooper-Paare formen können, die ohne Widerstand durch das Kristallgitter des kohlenstoffhaltigen Schwefelwasserstoffs wandern. Das könnte bei der Suche nach Raumtemperatur-Supraleitern helfen, die bei geringerem Druck ihren Widerstand verlieren.
Die Arbeiten der Forscher um Dias und seinen Kollegen seien ein großer Fortschritt, sagt Mikhail Eremets in einem Gespräch. Doch vom Heiligen Gral möchte der Mainzer Materialforscher nicht sprechen. Das wäre ein supraleitendes Material, dass sowohl bei Raumtemperatur als auch unter mäßigem Druck funktioniert. Nur dann wären praktische Anwendungen möglich, die die Welt verändern würden.