https://www.faz.net/aktuell/wissen/physik-mehr/casimir-effekt-spielball-einer-seltsamen-kraft-1512628.html

Casimir-Effekt : Spielball einer seltsamen Kraft

Bild: F.A.Z.

Vor dreißig Jahren vorhergesagt, ist der kritische Casimir-Effekt jetzt in einem Wasser-Öl- Gemisch gemessen worden. Dabei zeigt er überraschenderweise eine anziehende und eine abstoßende Wirkung.

          3 Min.

          Von nichts kommt bekanntlich nichts. Diese Weisheit mag für die meisten Bereiche zutreffen, in der Physik scheint sie bisweilen nicht zu gelten. So wirkt zwischen zwei eng benachbarten parallelen Metallplatten eine seltsame Kraft, wenn sie sich im Vakuum befinden und bis an den absoluten Nullpunkt gekühlt werden. Ihre Ursache ist rein quantenphysikalischer Natur. Durch Fluktuationen im Vakuum entstehen gewissermaßen aus dem Nichts permanent virtuelle Photonen, die sofort wieder verschwinden. Die Dichte der Teilchen ist zwischen den Platten geringer als außerhalb, wodurch diese zusammengedrückt werden und sich somit anzuziehen scheinen. Für den 1948 von dem niederländischen Physiker Hendrik Casimir vorausgesagten und mittlerweile experimentell mehrfach bestätigten quantenmechanischen Effekt sollte es theoretischen Überlegungen zufolge ein klassisches Pendant geben. Dieser kritische Casimir-Effekt ist nun von Forschern der Universität Stuttgart und des dort beheimateten Max-Planck-Instituts für Metallforschung in einem Gemisch aus Wasser und Öl aufgespürt und erstmals präzise gemessen worden.

          Manfred Lindinger
          Redakteur im Ressort „Natur und Wissenschaft“.

          Den kritischen Casimir-Effekt haben 1978 der amerikanische Theoretiker Michael Fisher und der französische Nobelpreisträger von 1991, Pierre-Gilles de Gennes, postuliert - dreißig Jahre nach Hendrik Casimirs berühmter Arbeit. Das Phänomen sollte aber nicht im Vakuum auftreten, sondern in Flüssigkeitsgemischen in der Nähe des sogenannten kritischen Punktes, also einer bestimmten Temperatur und eines bestimmten Mischungsverhältnisses der Komponenten. Ein Gemisch etwa aus 70 Prozent Wasser und 30 Prozent der öligen Substanz Lutidin etwa ist unterhalb seines kritischen Punkts - bei 34 Grad - eine homogene, klare Lösung. Oberhalb davon trennen sich die Komponenten, und es entsteht eine wasser- und eine lutidinreiche Phase. Das geschieht nicht schlagartig. In der Nähe der kritischen Temperatur treten bereits in der homogenen Phase starke lokale Konzentrationsfluktuationen auf.

          Wanderung bei 0,2 Grad unter dem kritischen Punkt

          Die beiden Theoretiker glaubten, dass diese Schwankungen eine ganz ähnliche Wirkung zeigen wie die quantenmechanischen Fluktuationen des Vakuums. Danach würden sich zwei eng benachbarte Flächen, die ein Flüssigkeitsgemisch umschließen, anziehen. Vor neun Jahren hatten Forscher um Moses Chan von der Pennsylvania State University erstmals Hinweise auf die Existenz des kritischen Casimir-Effekts gefunden, als sie einen dünnen Film aus Helium-4 beim Übergang von der normalflüssigen in die supraflüssige Phase untersuchten. Der Heliumfilm, der sich auf einer Kupferoberfläche befand, wurde etwas dünner, sobald man in die Nähe des kritischen Punktes kam. Offenkundig wirkte auf die Oberfläche des Films die kritische Casimir-Kraft.

          Die Forscher um Clemens Bechinger und Siegfried Dietrich aus Stuttgart haben die kritische Kraft nun in einem Gemisch aus Wasser und Lutidin bestimmt. Für den Nachweis verwendeten sie ein rund zwei Mikrometer großes Polymerkügelchen, das in der Flüssigkeit dicht über einem Glaskörper in der Schwebe gehalten wurde. Als man die Temperatur langsam erhöhte, begann - etwa 0,2 Grad unterhalb des kritischen Punkts - die Polymerkugel langsam in die Richtung der Glasoberfläche zu wandern: ein untrügliches Zeichen für eine anziehende Kraft.

          Ein Umweg führte zum Ziel

          Um die Stärke der Kraft messen zu können, mussten die Forscher allerdings einen Umweg nehmen. Sie ermittelten zunächst den Abstand zwischen der Kugel und dem Glaskörper als Funktion der Zeit - kein leichtes Unterfangen, war die mikrometergroße Kugel doch schon allein deshalb permanent in Bewegung, weil sie ständig Stößen von den Molekülen der Flüssigkeit ausgesetzt war.

          Die Forscher griffen zu einem raffinierten Verfahren, das auf der Lichtstreuung beruht. Sie strahlten Laserlicht unter einem spitzen Winkel auf das Gefäß, so dass nur ein geringer Teil in die Lösung eindrang, wo er an dem Kunststoffkügelchen gestreut wurde - wie stark, hing empfindlich vom Abstand zur Glaswand ab. Mit einer statistischen Analyse gelang es, den Einfluss des gesuchten Effekts auf die Bewegung der Kugel schließlich herauszufiltern. Die kritische Casimir-Kraft betrug nur 600 billiardstel Newton (Femto-Newton), womit sie etwa einem Millionstel der Gewichtskraft eines Flohs entspricht ("Nature", Bd. 451, S. 172). Das experimentelle Ergebnis zeigte eine gute Übereinstimmung mit den theoretischen Berechnungen.

          Nicht zwangsläufig anziehende Wirkung

          Die Kraft besitzt aber nicht zwangsläufig eine anziehende Wirkung. Ob sich das Kügelchen in Richtung des Glaskörpers oder von diesem wegbewegte, hing davon ab, wie man die Oberflächen der Kugel und des Glases beschichtet hatte. Waren sowohl der Glaskörper als auch die Kugel mit einer wasser- beziehungsweise ölabstoßenden Schicht überzogen, ergab sich eine anziehende Wirkung. Zeigte dagegen eine der beiden Oberflächen eine Vorliebe für Öl und die andere für Wasser, wurde die Kugel abgestoßen.

          Nach Ansicht der Forscher aus Stuttgart ließe sich der kritische Casimir-Effekt für mechanische Maschinen nutzen, die aus beweglichen Teilen von einigen Mikrometern oder Nanometern Größe bestehen. Im Vakuum sind diese Aktuatoren oft der anziehenden quantenmechanischen Casimir-Kraft ausgesetzt, wodurch die Bauteile blockieren. Würde man die betroffenen Elemente dagegen in einem Wasser-Lutidin-Gemisch betreiben, so könnten abstoßende kritische Casimir-Kräfte dem anziehenden quantenmechanischen Pendant entgegenwirken und so zu einem blockadefreien Betrieb der Nanomaschinen führen. Ob und wie sich das Konzept verwirklichen lässt, wollen die Wissenschaftler um Bechinger und Dietrich nun prüfen.

          Weitere Themen

          Linien der Erde

          Netzrätsel : Linien der Erde

          Es gibt nichts, was es nicht gibt im Netz der Netze: Geniales, Interessantes, Nützliches und herrlich Überflüssiges. Diesmal: geographische Linienerkennung

          Topmeldungen

          Wahlsieger Mike Josef (SPD) in der Menschenmenge im Frankfurter Römer die Glückwünsche von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) entgegen.

          OB-Wahl Frankfurt : Mike Josef gewinnt knapp in Frankfurt

          Frankfurt wird weiterhin von einem Sozialdemokraten regiert: Mike Josef hat die Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters gegen den CDU-Kandidaten Uwe Becker mit wenigen Tausend Stimmen Vorsprung gewonnen.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.