Wer im Norden Brasiliens die 101, die Straße des Zuckerrohrs entlangfährt, wähnt sich nicht selten in einer Hochsicherheitszone. Unangekündigte Umleitungen und Straßensperren sind an der Tagesordnung. Private Sicherheitsdienste der Zuckerbarone patrouillieren, zuweilen unterstützt von der Militärpolizei. Und die Aufseher auf den Feldern bewachen - ja was eigentlich? Das billige Zuckerrohr? Oder die billigen Arbeitskräfte, die mit schwerer Handarbeit die Produktion am Laufen halten?
Antworten: Fehlanzeige. Fragen sind nicht erwünscht. Hier, im brasilianischen Bundesstaat Pernambuco, gilt ein anderes Gesetz.
Für viele sind die Jobs in der Zuckerindustrie die einzigen, die es in der Gegend gibt. Sie sprechen ungern über die schlechte Bezahlung oder die harte Arbeit. Oder über veneno, das Gift. Gleichzeitig merken die Bewohner, dass ihre natürliche Lebensgrundlage bedroht ist.
Wie die von Maria Francisca de Lima und ihrer Familie. Ihre kleine Farm Sítio Bananeira in der Gemeinde São Lourenço da Mata ist regelrecht umzingelt von Zuckerrohr. Genau da, wo die Mauer aus Pflanzen endet, beginnt ihr Land; ein halber Hektar, auf dem die de Limas seit mehreren Generationen leben. Früher, da hat Maria Francisca selbst auf den Zuckerrohrplantagen gearbeitet.
Ihr Ehemann nickt, er überlässt seiner Frau das Reden. Beide sind Kleinbauern und ernähren sich von dem, was sie direkt vor ihrer Haustür anbauen. Maniok, Bohnen, Bananen, Maracuja, Papaya, Mangos, Orangen, dazu haben sie noch ein paar Tiere.
Genau um dieses kleine Stückchen Land wird nun seit 2004 heftig vor Gericht gestritten. Nach dem Gesetz gehört Maria Francisca das Land nicht mehr, das der Zucker- und Ethanol-Konzern Petribu von dem Vorbesitzer erworben hat. Jorge Petribu, der Eigentümer, gilt als einer der einflussreichsten Landbesitzer im Nordosten. Die 49-Jährige ist trotzdem geblieben. Mit einer großen Portion Mut und Starrsinn hat sie die ihr zugestandenen zehn Jahre der Duldung längst überschritten. Die geringe Entschädigungszahlung hat sie bisher immer abgelehnt. Wohin sollte sie auch gehen? Und wovon leben als Landwirt ohne Land?

Die dunkle Seite des Zuckers
Von MARIANNE FALCK, 01. April 2015Die Nacht war eine Mischung aus Angst und Schweiß. Maria Francisca de Lima schreckte hoch, als sie das Knistern der Flammen hörte. Beißender Rauch stieg ihr in Augen, Nase und Kehle. Die brennen das Zuckerrohr ab, dachte sie sofort. Sie konnte die Hitze durch die Ritzen ihres Hauses spüren. Ihr zweiter Gedanke: Aber so nah? Mit ihren Kindern und ihrem Mann rannte Maria Francisca nach draußen. Würde ihre kleine Farm Feuer fangen, hätten sie keine Chance.
Brasilien ist der weltweit größte Zuckerproduzent und -exporteur sowie der zweitwichtigste Ethanol-Hersteller. Auch in Europa landen immer mehr Zucker und Agrarsprit aus Brasilien. Trotz aller Beteuerungen von Nachhaltigkeit leiden Menschen und Umwelt vor Ort, wie die Situation im Bundesstaat Pernambuco zeigt.
Die Menschen
In Brasilien gilt das Gesetz der Zuckerbarone. Doch einige begehren dagegen auf.
Um Plantagen zu vergrößern werden Kleinbauern, die häufig ohne Besitztitel die vorher ungenutzten Ländereien der Großgrundbesitzer bewirtschaften, auch mit Gewalt verjagt. Landkonflikte sind seit jeher eines der größten Probleme in Brasilien. Unsicherheit über Besitzverhältnisse, die Macht des Agrarbusiness sowie unprofessionelle Reaktionen auf die Streitigkeiten mit indigenen Gemeinschaften und Bauern tragen dazu bei.
Um 1998 herum begannen Maria Franciscas Probleme mit den neuen Besitzern. Die Wachmänner des Petribu-Konzerns äußerten sich abschätzig gegenüber den Anwohnern, zeigten ihre Waffen, auch den Frauen und Kindern, erinnert sie sich. Nach und nach zwangen sie die Bewohner, ihr Land aufzugeben. Sie waren ja nichts mehr wert als Arbeitskräfte, viele von ihnen nach Jahren der Maloche auf den Feldern körperlich ausgelaugt und bereits im Ruhestand.
Die Zahl der Landkonflikte ist in den letzten Jahren gestiegen, fast 40 Prozent ereigneten sich in Zuckerrohr-Regionen. 2012 waren es Angaben der Entwicklungsorganisation Oxfam zufolge 24 Prozent mehr als im Vorjahr, 36 Menschen wurden infolge von Streitigkeiten getötet. Pernambuco, mit einer Größe von Portugal, ist trauriger Spitzenreiter in dieser Statistik. Von über 1000 Landkonflikten in Brasilien wurden 105 in diesem Bundesstaat verzeichnet.
Jetzt, wo sich nicht nur das süße Genussmittel verkaufen lässt, sondern auch Ethanol, ist die Nachfrage nach Land nicht zu stoppen: Auf fast zehn Millionen Hektar wächst in Brasilien schon Zuckerrohr. Doch das soll erst der Anfang sein: Der Think Tank „Center for Strategic Studies and Management in Science, Technology, and Innovation“ (CGEE) berechnete vor zehn Jahren im Auftrag der brasilianischen Regierung, wie zehn Prozent der weltweiten Nachfrage nach Agrarsprit im Jahr 2025 durch Brasilien gedeckt werden können. Denn dass das möglich ist, daran hat hier keiner Zweifel. Basierend auf dem Produktionsniveau von 2005 müssten bis dahin 35 Millionen Hektar Land mit Zuckerrohr bepflanzt werden, das entspricht über 49 Millionen Fußballfeldern.
Durchschnittlich werden auf einem Hektar rund 85 Tonnen Zuckerrohr geerntet, das entspricht etwa 13000 Kilogramm Zucker oder 7100 Litern Ethanol. Die Industrie möchte die Erträge aber weiter steigern, auch mithilfe der umstrittenen Gentechnik. Das brasilianische Zuckerrohr-Forschungsunternehmen CTC und Bayer CropScience zielen mit verschiedenen Versuchen etwa darauf ab, den Zuckergehalt deutlich zu steigern oder einen höheren Cellulose-Anteil zu erreichen, der für die Gewinnung von mehr Ethanol vorteilhaft wäre.
Im Gegensatz zu Gen-Soja und Gen-Mais gibt es noch kein transgenes Zuckerrohr auf dem Markt. Das liegt zum einen an der komplexen Zuckerrohr-DNA und ebenso daran, dass die Pflanze exakt an die lokalen Bedingungen angepasst werden muss. Somit ist die Entwicklung deutlich weniger attraktiv.

Anbaugebiete für ZuckerrohrDie wichtigsten befinden sich im Nordosten und im Bundesstaat São Paulo.
São Paulo
Pernambuco
São Paulo
Recife
Amazonas-Regenwald
Brasilien

Anbaugebiete für Zuckerrohr Die wichtigsten befinden sich an der brasilianischen Ostküste bei Recife und im Bundesstaat São Paulo.
São Paulo
Pernambuco
São Paulo
Recife
Amazonas-Regenwald
Brasilien
Nach Soja sind Zucker und Ethanol die zweitwichtigsten Exportschlager Brasiliens. Von den billigen Preisen profitieren auch die Verbraucher in Deutschland und Europa. Dank staatlicher Unterstützung in Milliardenhöhe, vorteilhafter Zinsen für Kredite und einem garantierten Absatzmarkt wächst die Macht der Zuckerbarone unaufhörlich. Für Maria Francisca und ihre Familie sind das düstere Aussichten.
Plötzlich schlägt ihr Hund laut an. Ihre Miene verfinstert sich, ihr aufgeregter Redeschwall verstummt. Sie springt auf, um nachzusehen, was los ist. Ob ihr die bewaffneten Wachmänner wieder einen Besuch abstatten, so wie damals? Wenn es um ihr Land geht, gleicht sie einer Amazone, sie ist bereit, es mit jedem aufzunehmen.
Nein. Falscher Alarm. Pater Tiago steht vor der Tür. Maria Francisca entspannt sich, als sie ihn sieht. Der Katholik setzt seine Mütze aus grauem, schottischem Harris-Tweed ab, als er ihr Haus betritt. Dass der Profit einiger weniger auf Armut und Besitzlosigkeit der vielen anderen beruht, damit will er sich auch mit seinen 73 Lebensjahren nicht abfinden. Noch immer ist er im Einsatz.
Die Kiltegan Fathers, irische Missionare, schickten ihn 1968 nach Brasilien. 1975 gründete die Nationale Bischofskonferenz die Landpastorale Comissão Pastoral da Terra (CPT), um Land- und Menschenrechte der Feldarbeiter durchzusetzen.
Auf der unternehmenseigenen Website wirbt Petribu mit seiner sozialen Verantwortung. Die de Limas spüren davon nichts. Warum kann ein Zuckerbaron, der allein in Pernambuco 28000 Hektar besitzt, nicht einfach auf diesen halben Hektar Land verzichten?
Pater Tiago, der seine Worte stets mit Bedacht wählt, antwortet ohne zu zögern: „Das Versprechen von sozialer Nachhaltigkeit ist eine große Lüge. Wer Ethanol tankt oder Zucker isst, sollte wissen: Der wird hier von Sklaven gemacht.“ Der Pater kennt die dunklen Seiten des Zuckerrohr-Booms. Er kümmert sich um jene, die, von der weltweiten „Biosprit“-Lüge befeuert, weiter in menschenunwürdigen Verhältnissen leben müssen. Wie die Zuckerrohrschneider und ihre Familien, die nicht mehr wie früher auf den Plantagen leben, sondern nun auswärts in heruntergekommenen Schlafdörfern hausen. Oder Kleinbauern, die regelmäßig bedroht werden, damit sie ihr Land endlich verlassen.
In den 1970er Jahren lebten noch 70 Prozent der Landarbeiter auf dem Land, das sie bewirtschafteten. Heute befänden sich in Pernambucos Hauptstadt Recife und Umgebung etwa 3000 Elendsquartiere, berichtet der Pater. Er versucht alles, um wenigstens einigen den sozialen Abstieg zu ersparen.
Die Landpastorale stellt Betroffenen Anwälte, die unentgeltlich beraten, zur Seite. Doch wie lange wird Maria Francisca noch durchhalten? Die Rechtsprechung ist klar geregelt. Zu ihren Ungunsten. Sie muss gehen.
Pater Tiago räumt auf mit der Vorstellung fairer Landübernahmen. „Wie kann eine Person oder ein Konzern Zehntausende Hektar besitzen, ohne Gewalt anzuwenden gegen diejenigen, die dort ihr Zuhause haben?“ Nur durch Unterdrückung und Vertreibungen im großen Stil sei es möglich so große Flächen zu gewinnen, um darauf Soja, tropische Früchte, Zuckerrohr, auch für den europäischen Verbraucher, anzubauen.
Der Albtraum begann nachdem Christoph Kolumbus das Zuckerrohr in die Neue Welt gebracht hatte und Großgrundbesitzer erst die Indianer und dann die Schwarzen aus Afrika auf die Felder zwangen. Nein, für den Pater ist das schmutzige Kapitel der Sklaverei längst noch nicht abgeschlossen.
Zwar wird von Regierungsseite versucht, die Arbeitsbedingungen mit strengeren Gesetzen zu verbessern und menschenunwürdige Bedingungen und Zwangsarbeit zu bekämpfen. Die Rede ist von besseren Löhnen, die etwa in Sao Paulo um 86 Prozent höher als in anderen Bereichen der Landwirtschaft liegen sollen. Ferner von über 600 Schulen, Hunderten Kindertagesstätten und Gesundheitsstationen, die von den Unternehmen finanziert werden.
Doch ungeachtet dieser Anstrengungen reißen Berichte über Sklaven bis heute nicht ab. 2007 beispielsweise befreite die Anti-Sklaverei-Einheit der brasilianischen Regierung 1100 Arbeiter auf einer Zuckerrohrplantage am Amazonas. Es war die bisher größte Befreiungsaktion im Land.
Auf den flachen Feldern im Süden fahren überwiegend Maschinen die Ernte ein, nicht aber im hügeligen Norden. Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse sind insbesondere bei den Wanderarbeitern zu finden. Ihre Lage wird künftig noch prekärer: Durch die Mechanisierung im Süden gibt es immer weniger Jobs. Da ist ein Hungerlohn oft besser als nichts. Um irgendwie mit den knapp 250 Euro im Monat über die Runden zu kommen, müssen die Zuckerrohrschneider die Erntesaisons im Süden und Norden mitmachen.
Im Süden dauert die Ernte von April bis etwa November, im Norden und Nordosten von September bis Februar. Nur so kann die Industrie ihre ehrgeizigen Ziele erreichen und rund ums Jahr exportieren.
Auf dem Papier, ja, da seien die Bedingungen besser geworden, aber in der Praxis? Pater Tiago schüttelt den Kopf. „Wer etwas anderes behauptet, der lügt.“
Bedrohungen und Einschüchterungen sind im harten Geschäft an der Tagesordnung. „Einmal hat mich die Zuckerrohr-Miliz gekidnappt und die Militärpolizei zu Hilfe gerufen. Da habe ich gelernt: Die Aufseher auf den Plantagen stehen jederzeit in Funkkontakt mit denen.“ Er erzählt das ganz leise, fast beschämt, er will sich nicht wichtig machen; für ihn kommen die Arbeiter und ihre Familien an erster Stelle. Hinter den Übergriffen steht meistens eine Allianz von Großgrundbesitzern, lokalen Politikern und der als äußert brutal geltenden Militärpolizei, gegen die kein Richter vorzugehen wagt, will er nicht sein Leben riskieren.
Ähnliches berichtet José Lourenço da Silva, der Präsident der Landarbeiter Gewerkschaftsunion STR. Der 58-Jährige wurde nicht nur mehrfach entführt, sondern überlebte auch mehrere Mordanschläge. Als er einmal ein krankes Mädchen von einer Zuckerplantage zum Krankenhaus fuhr, weil es Blut spuckte, wurden mehrere Schüsse auf seinen Wagen abgegeben. Ein anderes Mal musste er seine wöchentliche Radio-Sendung abbrechen und sich im Sendergebäude vor einem angeheuerten Killer verstecken. Und gleich mehrere Leute schickten sie einmal hierher, ins Gewerkschaftsbüro, um ihn zu holen. Als er sich erinnert, bleibt seine Stimme fest. Nein, er habe keine Angst, aber ein Foto von sich möchte er lieber nicht veröffentlicht sehen.
Die Welt der Zuckerbarone funktioniert eben nach einem ganz einfachen Prinzip. „Wir respektieren das Gesetz, weil wir das Gesetz sind", so hat es einmal ein Zuckerbaron gegenüber Pater Tiago ausgedrückt. Auch wenn die Regierung diesen Eindruck vermeiden will: Im Bundesstaat Pernambuco gilt noch immer das Gesetz des Stärkeren.
Das Wasser
Verseuchte Flüsse, tote Arbeiter und Spritzgifte unter Verdacht.
„Früher da konnten sich die Männer hier im Fluss baden, jetzt ist der Wasserspiegel extrem niedrig. Er reicht gerade noch fürs Wäschewaschen“, erzählt Maria Francisca. Oft leiten die Zuckerbarone ganze Bäche und Flüsse um, schließlich muss das Wasser für die Produktion in den Fabriken ja irgendwoher kommen.
In der Folge trocknen jahrhundertealte Wasserquellen aus, mit verheerenden Konsequenzen für Natur und Anwohner. „Einige Bäche und Flüsse sind komplett von unserer Landkarte verschwunden. Und damit auch der Fisch. Und was sollen wir essen?“, fragt José Lourenço.

Grauer Wasserfußabdruck
Blauer Wasserfußabdruck
Grüner Wasserfußabdruck
Menge des Wassers, die aufgewendet werden muss, um entstandenes Abwasser von Düngemitteln und Agrargiften zu reinigen
Grund- und Oberflächenwasser, das bei der Produktion verbraucht wird
Verbrauch des im Boden gebundenen Niederschlagswassers
Für 1 Liter Ethanol aus Zuckerrohr werden im globalen Durchschnitt
1 Liter
569 Liter
126 Liter
1.391 Liter

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Grüner Wasserfußabdruck
Menge des Wassers, die aufgewendet werden muss, um entstandenes Abwasser von Düngemitteln und Agrargiften zu reinigen
Grund- und Oberflächenwasser, das bei der Produktion verbraucht wird
Verbrauch des im Boden gebundenen Niederschlagswassers
Für 1 Liter Ethanol aus Zuckerrohr werden im globalen Durchschnitt
1 Liter
569 Liter
127 Liter
1.391 Liter
Ein weiteres Problem: das Wasser ist zunehmend belastet. Eine offizielle Statistik gibt es dazu nicht. Egal ob in Upatininga, Aliança oder in anderen Ethanol-Dörfern: Die Einheimischen erzählen von toten Fischen. Sie sagen, der massive Einsatz von Pestiziden seit Beginn der 1980er Jahre habe das Wasser verseucht. Giftige Abwässer mit den Rückständen von Düngemitteln und Agrargiften werden ungefiltert in die Umwelt geleitet.

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Grüner Wasserfußabdruck
Menge des Wassers, die aufgewendet werden muss, um entstandenes Abwasser von Düngemitteln und Agrargiften zu reinigen
Grund- und Oberflächenwasser, das bei der Produktion verbraucht wird
Verbrauch des im Boden gebundenen Niederschlagswassers
1 Kilogramm
481 Liter
107 Liter
1.176 Liter
Für 1 Kilogramm raffinierten Zucker aus Zuckerrohr werden im globalen Durchschnitt

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Menge des Wassers, die aufgewendet werden muss, um entstandenes Abwasser von Düngemitteln und Agrargiften zu reinigen
Grund- und Oberflächenwasser, das bei der Produktion verbraucht wird
Verbrauch des im Boden gebundenen Niederschlagswassers
1 Kilogramm
481 Liter
107 Liter
1.176 Liter
Für 1 Kilogramm raffinierten Zucker aus Zuckerrohr werden im globalen Durchschnitt
Viele Einwohner füllen sogar ihr Trinkwasser aus der öffentlichen Wasserstelle in die leeren Behälter der Agrarchemikalien ab. Auf dem Boden steht não reutilizar está embalagem, Behälter nicht wiederverwenden. Offiziell werden in Brasilien 95 Prozent der Pestizid-Verpackungen recycelt. In Pernambuco werden einer Erhebung zufolge nur 0,2 Prozent ordnungsgemäß gesammelt, der Rest wird verbrannt, vergraben oder landet als giftiger Behälter wieder bei den Menschen. Hoher Analphabetismus und mangelnde Aufklärungsarbeit tragen zu solchen katastrophalen Ergebnissen bei.
77.000 Tonnen Pestizide wurden laut Branchenverband SINDIVEG 2013 auf brasilianischen Zuckerrohrfeldern versprüht, darunter Substanzen wie Glyphosat und 2,4-D, aber auch Atrazin oder Paraquat, die in der EU gar nicht mehr zugelassen sind. Das hochgiftige Endosulfan wurde erst Ende letzten Jahres in Brasilien verboten. Es gilt als einer der giftigsten Stoffe überhaupt und wird etwa für schwere Missbildungen bei Ungeborenen und Kindern verantwortlich gemacht.
Auf 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure, kurz 2,4-D, setzt die Zuckerindustrie hingegen noch immer. 2,4-D gehörte zu den Bestandteilen des berüchtigten Entlaubungsmittels Agent Orange im Vietnam-Krieg. Die verheerende Wirkung auf die menschliche Gesundheit wurde damals vor allem durch Verunreinigungen mit Dioxin verursacht, das als toxisches Nebenprodukt bei der Herstellung auftreten kann und als krebserregend gilt. Besonders alarmierend: „In manchen Mischungen von 2,4-D wird immer noch Dioxin gefunden“, erklärt Pestizid-Experte Hans Muilerman von der Organisation Pesticide Action Network in Brüssel.
Die meisten Mittel kommen von europäischen und amerikanischen Unternehmen wie Monsanto, Syngenta, BayerCropScience, DuPont, BASF oder Dow AgroSciences. Sie sollen nicht nur Unkraut und Schädlinge töten, sondern im Falle von Glyphosat das Zuckerrohr schneller reifen lassen. Der auch in der EU umstrittene Wirkstoff wird besonders massiv im August auf den Feldern ausgebracht – aus dem Flugzeug. Doch dann wehen oft starke Winde. In der EU ist das Versprühen per Flugzeug nur noch in Ausnahmefällen erlaubt.
Am Ende der Kette stehen die Verbraucher, hier in Europa und anderen Teilen der Welt, doch am Anfang stehen Arbeiter und Anwohner wie Maria Francisca.
„Wenn sie das Gift direkt neben oder über unserem Haus ausbringen, dann bekomme ich Kopfschmerzen und muss mich fast übergeben“, schimpft sie. Doch viel mehr als um ihre Gesundheit sorgt sie sich um ihren Hof. Ein Teil ihrer Ernte ist dann jedes Mal zerstört. Es gibt Zeiten, in denen überhaupt nicht gesprüht werden soll, weil das Gift bei hohen Temperaturen schneller in die Poren kriecht, aber nicht alle halten sich daran. Die Bilanzen müssen stimmen. Zucker und Ethanol sind ein großes Geschäft - ebenso wie Spritzmittel. Brasilien ist nach den USA der zweitgrößte Markt für Pestizide in der Welt. Für Südamerika rechnet die Branche mit einer jährlichen Steigerung um 5,6%, vor allem weil die Zuckerrohrproduktion in Brasilien wächst.
Früher, da habe man nur geringe Mengen in wirklich schwer zugänglichen Gebieten versprüht. Aber jetzt sei die ganze Region voller Gift, erzählt José Lourenço. Wie viele andere Arbeiter erzählt er auch, dass die Schutzausrüstung völlig unzureichend ist. Pestizidvergiftungen und Krebserkrankungen seien die Folge. Bereits als Neunjähriger begann er auf den Plantagen zu arbeiten, als Erwachsener brachte er selbst Gift aus. Der Rat des Gewerkschaftspräsidenten ist gefragt; vor der Tür wartet bereits ein gutes Dutzend Arbeiter, um ihn zu sprechen.
Gesundheitschecks seien zwar inzwischen verpflichtend, sie finden etwa alle 30 bis 90 Tage statt. Das Problem: Jedes Unternehmen hat sein eigenes medizinisches Personal samt Labor. „Die Ärzte werden von den Unternehmen bezahlt. Die werden niemals sagen, dass der Arbeiter an einer Pestizidvergiftung leidet oder sogar sterben wird.“ Die meisten der Arbeiter hätten sowieso Angst, sich krank zu melden. „Die Gifte sind so gefährlich, eine Illusion, dass die Schutzkleidung die Arbeiter beschirmt. Die Atemschutzmaske ist sogar durch das Arbeitsministerium getestet worden. Aber wie? Wir können das Gift trotzdem riechen.“ José Lourenço nickt, sein Händedruck zum Abschied ist fest; dann ruft er den ersten Wartenden zu sich.
Milch soll gegen das Gift im Körper wirken, erzählen viele Arbeiter. Nur wenige glauben das auch, sie sind skeptisch. Einige Aufseher bestehen darauf, dass die Männer mit den Giftspritzen das trinken, bevor sie aufs Feld gehen.
Reginaldo Afonso da Silva leerte regelmäßig ein Glas Milch. Geholfen hat es nichts.
Fast 20 Jahre lang sprühte er Pestizide auf den Zuckerrohrfeldern von Upatininga, bis er als 44-Jähriger starb. Ana Maria da Silvas Gesicht verhärtet sich, als sie vom Tod ihres Bruders erzählt. Sie riet ihm immer wieder, um einen anderen Job zu bitten. Aber beide wussten, dass er keine Wahl hatte. Es ist so gut wie unmöglich nach Einsätzen mit der Giftspritze wieder als Erntehelfer tätig zu werden. Wer fragt, fliegt.
Reginaldo Afonso war ständig übel, er hatte Kopfschmerzen, schließlich verlor er extrem an Gewicht. Also ging er immer öfter zu verschiedenen Ärzten. Das Gift sei schuld, erklärten sie ihm. Doch auf dem Totenschein steht das nicht. Dort steht, er sei an einer hochansteckenden Hirnhautentzündung verstorben. Zuvor wurde er noch in ein Krankenhaus, das auf Infektionen spezialisiert ist, gebracht. Für seine Schwester Ana Maria ergibt das alles keinen Sinn: „Warum durften wir ihn dann dort ohne Schutzkleidung besuchen? Und warum war sein Sarg offen?“ Sie schüttelt den Kopf. Nein, sie glaubt nicht an die offizielle Wahrheit. Merkwürdig sei auch, dass seine Frau, zumal im Totenschein gar nicht erwähnt, inzwischen eine Hinterbliebenenrente erhält. Das sei eigentlich unüblich. Oder aber ein spätes Schuldeingeständnis der Industrie, wie Ana Maria glaubt.
„Schon wenn sie nahe der Straße das Gift ausbringen, dann wird mir im Auto übel und ich kann kaum atmen. Und das bei geschlossenen Fenstern!“, erklärt Maria* zur Begrüßung. Die vier Mitarbeiter der lokalen Gesundheitsstation in Upatininga kennen unzählige Krankheits- und Todesfälle, die sie auf das Gift zurückführen. Sie reden geradeaus. Doch weil es auch in dieser Gesundheitsstation Menschen gibt, die dieses Kapitel lieber totschweigen wollen, können sie ihre Namen nicht preisgeben.
© Ana LiraAbwässer mit den Rückständen von Düngemitteln und Pestiziden werden von São José Agroindustrial ungefiltert in die Umwelt geleitet
Gerne würden die Gesundheitsberater Daten über die Fälle sammeln oder eine Langzeitstudie machen. Aber das ist gefährlich. Natürlich spielen Hitze, schwere Arbeit, unsachgemäße Ausbringung der Gifte oder die geringe Flüssigkeitszufuhr auch eine Rolle. Trotzdem gibt es Ungereimtheiten. „In unserer Gegend heißt es immer ‚akutes Lungenversagen“. Merkwürdig, dass die Mediziner im entfernten Recife ‚Vergiftung’ in den Totenschein schreiben. Wahrscheinlich werden die Kollegen hier zensiert“, argwöhnt Roselita*.
Die Muster dahinter ähneln sich: Der Plantagenbesitzer hat einen Verwandten oder Bekannten, der Arzt ist. Und der hat einen Freund, der wiederum als Gerichtsmediziner arbeitet. Ein schneller Anruf und die Todesursache lautet „akutes Lungenversagen“.
Wie zur Bestätigung warten am Ausgang der Gesundheitsstation ein Polizeiwagen und zwei bewaffnete Sicherheitsleute eines Zuckerbarons auf ihren Motorrädern. Fragende Journalisten sind in der Gegend nicht gern gesehen. Das Gesetz des Schweigens soll niemand brechen.
Auch das Ministerium für Landwirtschaft, Viehzucht und Versorgung beantwortete keine Anfragen. Von staatlicher Seite gibt es dennoch Versuche, die ungeklärten Krankheits- und Todesfälle zu untersuchen. Dr. Aline Gurgel arbeitet als Referatsleiterin in der staatlichen Abteilung des Gesundheitsamtes in Recife. Die studierte Biomedizinerin lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht einschüchtern lassen will. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Ordner und Publikationen. Gerade bereitet sie eine neue Studie vor, dabei will sie auch eng mit den lokalen Gesundheitsstationen zusammenarbeiten.
Sie weiß, dass es nicht leicht sein wird, die tatsächliche Lage zu erfassen. „Das größte Problem der Hinterbliebenen ist, einen korrekt ausgestellten Todesschein zu erhalten, in der die Pestizidvergiftungen klar als Ursache benannt werden - sei es aus gesellschaftlichen Gründen oder Unwissen“, benennt sie das Problem. Die 31-Jährige kennt auch ihren Gegner: „Das ist eine mächtige Lobby und dahinter stehen große internationale Firmen. Oft genug versuchen sie kritische Wissenschaftler und ihre Studien zu diskreditieren.“
Offiziell werden hier etwa 500 Vergiftungsfälle pro Jahr gemeldet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und auch das brasilianische Gesundheitsministerium gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, auf einen gemeldeten Fall kämen 50 nicht entdeckte Vergiftungen. Das macht 24.500 Fälle pro Jahr, allein in Pernambuco, wo die Zuckerrohrplantagen die Landwirtschaft dominieren.
Der Wald
Wie Zuckerrohrfelder riesige Regenwaldgebiete gefährden
Zona da Mata heißt die Region am Atlantik, zu der auch Pernambuco gehört. Wald-Zone. Zur Zeit der Entdeckung Brasiliens standen hier fast 1,3 Millionen Quadratkilometer Wald. Doch nun gibt es keinen Wald mehr. Der ist längst gefällt. Er lag den Eroberern, die sich von der Küste den Weg ins Landesinnere bahnten, im Weg. Aber sie waren nicht die schlimmsten Zerstörer. Die größten Verluste traten erst in den letzten 50 Jahren auf.
Zona da Mata ist nun eine einzige große Zuckerrohrplantage. Die Kinder von Maria Francisca kennen es gar nicht anders. 1993 wurde Mata Atlântica, der Atlantische Regenwald, in 14 Bundesstaaten Brasiliens zum UNESCO Biosphärenreservat erklärt, auch die noch nicht gerodeten Überbleibsel in Pernambuco.
Obwohl der Atlantische Regenwald nur einen Bruchteil der Größe des Amazonas Regenwalds ausmacht, besitzt er mit etwa 2200 Vogelarten, Säugetieren, Reptilien, Amphibien und 20.000 Pflanzenarten eine ähnlich große biologische Vielfalt. Davon sind 200 Vogel- und 21 Primatenarten nirgendwo sonst auf der Welt zu finden.
Es heißt, Zuckerrohr vertrage keine Nässe. Und dass es deshalb die Regenwälder nicht gefährden würde. „Ich habe selbst einmal gesehen, wie die Usina Trapiche Pflanzen im Atlantischen Regenwald gesetzt hat. Das ist doch der blanke Wahnsinn“, erzählt dagegen Pater Tiago. Weitere Augenzeugen berichten Ähnliches. Mit den Umweltgesetzen nimmt man es wohl nicht so genau; Trapiche ist schließlich einer der größten und einflussreichsten Ethanol-Produzenten der Region.
2000 Kilometer entfernt von Marias kleiner Farm steht ein anderer Wald, der Amazonas-Regenwald. Auch er ist zunehmend bedroht. Daten der Brasilianischen Raumforschungsbehörde INPE und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO zeigen, dass seit 1970 über 760.000 Quadratkilometer Wald gerodet wurden, das entspricht etwa 106.442 Fußballfeldern. Zum Vergleich: Deutschland hat eine Fläche von 357.000 Quadratkilometern.
Wissenschaftler warnen vor weiteren Abholzungen. Denn der Amazonas-Regenwald bindet riesige Mengen Treibhausgase und bremst die Erderwärmung ab. Er ist der größte Süßwasserspeicher des Planeten. Hier entstehen Regenwolken, die ebenfalls das Klima beeinflussen. Inzwischen befinden sich nach Angaben der Weltnaturschutzunion IUCN 227 Tierarten auf der Roten Liste, der Frosch Phrynomedusa fimbriata gilt in Brasilien bereits als ausgestorben.
Schon jetzt ziehen Soja-Landwirte und Vieh-Bauern immer weiter Richtung Amazonas. Das Zuckerrohr wandert hinterher, etwa auf die ehemaligen Viehweiden. So sichern sich die Produzenten zum einen bezahlbare Flächen und befriedigen zum anderen die steigende Auslandsnachfrage. Bei Zucker, Soja, Fleisch und zuckerbasiertem Ethanol zählt Brasilien zu den weltweit führenden Produzenten und Exporteuren.
Präsidentin Dilma Rousseff will wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis. Deshalb steht sie seit längerem in der Kritik brasilianischer Umweltschützer. Sie setzt auf den Bau von Staudämmen und neuen Autobahnen und pflegt ihre engen Verflechtungen zur mächtigen Agrarindustrie, ernannte überdies Lobbyistin Kátia Abreu zur Landwirtschaftsministerin. Diese trägt den Spitznamen „Kettensägen-Königin“, nicht zuletzt weil sie ein zentrales Gesetz zum besseren Waldschutz, den Código Florestal, erbittert bekämpft hat. Der Wissenschaftsminister Aldo Rebelo bestreitet gar die Existenz des Klimawandels.
Aktuell treibt ein 2013 beschlossener Gesetzentwurf Umweltschützern Sorgenfalten auf die Stirn. Hinter der Nummer 626/2011 verbirgt sich nichts Geringeres als die Möglichkeit, künftig in den Regionen des Amazonas-Regenwaldes, der tropischen Savanne Cerrado und dem Feuchtbiotop Pantanal Zuckerrohr pflanzen zu können. Obwohl sich der Anbau auf bereits abgeholzte Flächen konzentrieren soll, befürchten Experten, dass die Auswirkungen verheerend sein werden - von einer Zerstörung der einzigartigen Ökosysteme bis hin zu Einschüchterungen und Vertreibungen der indigenen und lokalen Bevölkerung. So wie es auch Maria Francisca erlebt hat.
Befürworter versprechen dagegen neben der Einhaltung der Umweltstandards, wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung, eine bessere Infrastruktur sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen.
„Bis 2030 sind wir der größte Treibstofflieferant der Welt", hatte Luiz Inácio Lula da Silva, der frühere Präsident Brasiliens, einmal vollmundig erklärt. Auch unter Dilma Rousseff soll Ethanol ihrem Land eine große Zukunft bringen - und dem Rest der Welt ein grünes Gewissen verschaffen. So will die EU bis 2020 den Anteil der Agrartreibstoffe am gesamten Spritverbrauch von bisher 5 auf 10 Prozent steigern. Das kann nur durch wachsende Treibstoffimporte gedeckt werden.
Herstellungsprozess – so wird Zuckerrohr zu Ethanol
1 Zuckerrohr wird geerntet.
2 Bei der Verarbeitung in der Zuckerfabrik fallen zuckerhaltige Säfte an.
3 Im Fermenter wird der Zucker unter Zugabe von Hefe zu Ethanol, also Alkohol, vergoren.
4 Durch Destillation wird ein Bioethanol-Wasser-Gemisch vom Abfallprodukt, der sogenannten Schlempe, getrennt.
5 In der Aufbereitung wird dem Ethanol das restliche Wasser entzogen.
6 Das Bioethanol wird mit fünf- (E5) oder zehn-prozentigem (E10) Anteil Benzin beigemischt.
7 Bei speziell dafür geeigneten Fahrzeugen kann auch ein E85-Gemisch verwendet werden.
Fast die Hälfte des in Deutschland eingesetzten Agrarkraftstoffs wird bereits jetzt importiert, zu großen Teilen aus anderen EU-Staaten. Noch. Allein Brasilien lieferte nach Angaben des Brasilianischen Zuckerrohr Verbandes UNICA 2013 trotz schlechter Ernte immerhin 186 Millionen Liter Ethanol in die EU. Ganz Europa verbrauchte 2013 7,9 Milliarden Liter pro Jahr. Noch ist der amerikanische Markt für brasilianisches Ethanol attraktiver, die USA zahlen einen höheren Preis für den Agrarsprit als die EU.
Die Produzenten in Brasilien können zudem relativ flexibel auf Marktveränderungen reagieren. Wenn der Preis für Zucker sehr niedrig ist, dann wird eben Ethanol angeboten – und andersherum. Wie viel ein Produzent verdienen kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab: der weltweiten Ernte, den Gesetzgebungen der Länder, von Zöllen, dem Ölpreis und vielem mehr.
Auch der Zuckermarkt ist in Bewegung. Bis Herbst 2017 gilt in der EU noch die sogenannte Zuckermarktordnung. Nationale Zuckerquoten, Garantiepreise, Zölle und Exporterstattungen schützen die europäischen Rübenbauern vor Marktschwankungen, aber auch vor billigerem Rohrzucker aus Übersee. Doch Brasilien, Thailand und Australien klagten erfolgreich bei der Welthandelsorganisation (WTO). Ihr Argument: Die Zuckerpolitik der EU verstoße gegen die Gesetze eines freien Weltmarktes. Brasilien kann bald also noch mehr Zucker und Ethanol nach Europa exportieren.
Die EU-Mitgliedstaaten koppeln diese Importe an die Bedingung der „Nachhaltigkeit“ der Produktion. Laut Biokraft-Nachhaltigkeitsverordnung sollen so „klimaschädliche Umwidmungen“ vermieden werden. Der Agrarsprit darf nicht aus Zuckerrohrplantagen kommen, die auf Flächen ehemaliger Regenwälder wachsen oder von anderen geschützten Landschaften stammen. So steht es jedenfalls in den Verträgen.
Welche Konsequenzen die ehrgeizige Ziele Brasiliens haben könnten, haben Wissenschaftler 2010 in der internationalen Fachzeitschrift PNAS aufgezeigt. Die angestrebte Menge an Agrarsprit könnte dazu führen, dass über 120.000 Quadratkilometer Regenwald abgeholzt werden, um den zusätzlichen Flächenbedarf für Nahrung zu decken, würden auf den bisherigen Feldern Energiepflanzen wie Zuckerrohr angebaut. Das entspricht etwa der Fläche von Griechenland. „Die Landnutzung würde sich also weiter nach Norden in den Regenwald verschieben“, erklärt Dr. Jörg Priess vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, der an der Studie beteiligt war.
Das Versprechen, für europäischen Agrarsprit aus Zuckerrohr werde kein Regenwald abgeholzt, lässt sich also nicht halten. Und das eigentliche Bestreben, mit nachwachsenden Rohstoffen das Klima zu schonen, wird ad absurdum geführt. In unzugänglichen Gebieten, wie etwa im hügeligen Norden des Landes, wird nach wie mit Feuer geerntet. Genauso wie die Abholzungen relativieren die Brandrodungen die vergleichsweise gute Klimabilanz des Ethanols.
In den vergangenen Jahren wurden Hunderttausende Hektar Zuckerrohr in Brasilien gepflanzt, vor allem wegen der wachsenden Nachfrage nach Agrarsprit. Doch geeignete, bereits erschlossene Ackerflächen sind rar. Vor den dramatischen Folgen der Abholzung haben Experten immer gewarnt. Nun scheint es, als ob das natürliche System der gesamten Region bereits aus den Fugen geraten ist.
Seit Monaten sind die Wasserspeicher hunderter Städte im dicht besiedelten und wirtschaftlich wichtigen Südosten so gut wie leer, auch die Millionenmetropolen São Paulo und Rio de Janeiro sind betroffen. Brasilianische Tageszeitungen berichten, dass ein Viertel der Bevölkerung unter der Wasserknappheit leide. Das sind 48 Millionen Menschen. Ausbleibende Investitionen in neue Reservoirs und Wasserverschwendung der Bevölkerung werden für die Dürre verantwortlich gemacht. Als weitaus größter Verschwender gilt jedoch die industrialisierte Landwirtschaft. Sie verbrauche etwa 70 Prozent des Trinkwassers, so der Klimaforscher Alexandre Costa von der Universität Caéra.
Wissenschaftler gehen inzwischen davon aus, dass die größte Dürre in Brasiliens Geschichte mit der Abholzung des Regenwaldes zusammenhängt. Zum einen verlängern sich die Trockenzeiten in der Amazonasregion. Experten wie Antonio Nobre vom brasilianischen Raumforschungsinstitut INPE vermuten zudem, dass die „fliegenden Flüsse“ genannten Niederschlagswolken nicht mehr bis in den Südosten, Süden und in den westlichen Zentralbereich Brasiliens gelangen können. Denn da, wo einst genügend Bäume standen, wächst heute Exportsoja oder grasen Rinder.
Die Regierung will einen solchen Zusammenhang nicht erkennen. Bei der Uno-Klimakonferenz 2014 weigerte sich Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, eine Erklärung über die Verminderung der Abholzung zu unterschreiben.
Die Folgen der Waldrodungen werde unter brasilianischen Umweltforschern kontrovers beurteilt, berichtet Dr. Priess. „Die Argumentation ist plausibel. Aber die Datenbasis ist noch recht schwach.“ Zusammen mit brasilianischen Kollegen untersucht der deutsche Wissenschaftler gerade, wie ein besserer Schutz des Waldes durch sogenannte Ökosystemleistungen umgesetzt werden kann. Die Modellstudie wird im Rahmen des Forschungsprojektes OpenNESS von der EU finanziert; nicht zuletzt deshalb, weil eine umweltverträglichere Produktion von Agrarsprit politisch gewünscht ist.
Eine Lösung könnte sein, einige Waldgebiete wieder herzustellen, so dass ein kontinuierlicher Wasserfluss gewährleistet ist. Die Umwandlung in Wald muss natürlich finanziert werden, etwa über Zuschläge auf das kühle Nass. Zur Zeit herrscht aufgrund der Dürre jedoch ein dringlicheres Problem: Wie sollen die wenigen, noch vorhandenen Wasserressourcen einigermaßen gerecht verteilt werden zwischen ländlicheren Regionen und den entfernten Städten, zwischen den Privathaushalten und der Agrarindustrie? Offen bleibt auch, wer die Spielregeln in diesem undurchsichtigen Geflecht aus Politikern, Zuckerbaronen, Beamten und Militärpolizei bestimmt.
Im Morgengrauen glimmt noch die Glut. Das Feuer verjagt Schlangen, giftige Vogelspinnen, aber auch Nützlinge. Und es verbrennt die scharfen Blätter des Zuckerohrs, lässt dabei aber die wasserreichen Stängel und Wurzeln unbeschädigt. Dann rücken die Arbeiter mit ihren Macheten vor. Sie schneiden das Rohr, das die Hitze des Feuers überdauert hat und später zu einem Spottpreis als Zucker oder Agrarsprit verkauft wird. Die Arbeiter ignorieren Maria Franciscas Rufe, sie müssen schnell sein, wollen sie die Zielvorgabe von 10 bis 12 Tonnen pro Schicht erreichen. Außer den Hieben der scharfen Macheten ist es jetzt still. Bald schon werden die Lastwagen kommen und das geschnittene Rohr in die Zucker-und Ethanolfabrik von Petribu bringen. Müde geht Maria Francisca wieder in ihr Haus zurück.
Den Preis für unseren Hunger nach Zucker und billigem Agrarsprit - getrieben von Subventionen und fragwürdigen politischen Forderungen in der EU - zahlen trotz zunehmender Mechanisierung, verbesserter Gesetze und Schutzmaßnahmen nach wie vor die Arbeiter und Anwohner der Zuckerplantagen.
Fast alle der 40 Familien haben sich damals dem Druck der Usina Petribu gebeugt. Alle außer Maria Francisca. Entschlossen schüttelt sie den Kopf: „Nein, ich werde keine Deals mit denen machen. Ich werde nicht aufgeben.“
(* Vollständige Namen der Redaktion bekannt)
Autorin/Producerin: Marianne Falck
Fotos/Mitarbeit Recherche: Ana Lira
Redaktion: Joachim Müller-Jung
F.A.Z. Multimedia: Robert Wenkemann, Johannes Thielen, Jochen Rößler
Sprecher: Maria Wiesner, Andreas Krobok
Autorin Marianne Falck ist Stipendiatin der Masterclass „Zukunft des Wissenschaftsjournalismus“ der Robert Bosch Stiftung und des Reporter-Forums.
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 31.03.2015 19:26 Uhr
