Modelle kritisch hinterfragen : Wie zuverlässig sind Simulationen zum Corona-Verlauf?
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Viele verschiedene numerischen Modelle werden genutzt, um den weiteren Verlauf der Covid-19-Pandemie vorherzusagen, hier ein modellbasierter Report aus dem amerikanischen Austin. Bild: AP
Wie wird sich die Covid-19-Pandemie entwickeln, und welche Maßnahmen können bei der Eindämmung helfen? Simulationen geben Antworten – aber wie kann man ihre Zuverlässigkeit prüfen?
Worauf müssen wir uns für die kommenden Monate einstellen? Wird sich unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren lassen? Mit wie vielen Toten und Schwerkranken ist im weiteren Verlauf der Covid-19-Epidemie zu rechnen? Wer zu diesen Fragen heute ernstzunehmende Stellungnahmen und Handlungsempfehlungen gibt, der beruft sich dabei fast immer auf epidemiologische Modelle: die Bundesregierung, das Robert Koch-Institut (RKI), selbst Donald Trump. Letzterer wurde offenbar überhaupt erst von den düsteren Prognosen eines Computermodells des Imperial College London Mitte März dazu gebracht, die Corona-Epidemie politisch ernst zu nehmen und weitreichende Maßnahmen einzuführen – auch wenn seine eigene Expertise sich auf eine andere Art von „Models“ beziehe, wie er sich jüngst bei einer Pressekonferenz festzustellen nicht verkneifen konnte.
Gleichzeitig wimmelt es in den sozialen Medien mittlerweile von hochmotivierten Hobbyepidemiologen, die auf der Grundlage der verfügbaren Daten eigene einfache Modelle entwickeln, um sich an selbsterstellten Vorhersagen und Theorien zu versuchen. Dabei wird allerdings oft vergessen, dass für die mathematische Modellierung einer Epidemie wie der auf dem Sars-CoV-2-Virus beruhenden das Rad nicht neu erfunden werden muss. Der Versuch, die Ausbreitung und die Risiken von Krankheiten zu verstehen, reicht bis ins siebzehnte Jahrhundert zurück, als der Londoner Kurzwarenhändler John Gaunt die in London wöchentlich veröffentlichten Sterbeberichte auswertete, um einen Eindruck über die verschiedenen Sterberisiken zu bekommen. Sein 1662 veröffentlichtes Buch machte Schlaganfälle als häufigste Todesursache aus – ein Ergebnis, das nur drei Jahre später von der Großen Pest in London revidiert wurde. Der Schweizer Mathematiker und Physiker Daniel Bernoulli veröffentlichte 1760 ein mathematisches Modell zur Ausbreitung der Pocken, um zu zeigen, dass die Pockenschutzimpfung die Sterberate deutlich senken würde. In diesem Modell war der Übertragungsmechanismus der Krankheit nicht eigens enthalten, Individuen erkrankten einfach mit einer bestimmten Rate.
Das klassische Modell von 1927
Tatsächlich gab es noch im neunzehnten Jahrhundert vielfach Unklarheiten darüber, wie Seuchen übertragen werden. Auf der Einsicht, dass der direkte Kontakt zwischen infizierten und für die Ansteckung empfänglichen Menschen für viele Krankheiten eine zentrale Rolle spielt, beruhte Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts schließlich ein einfaches Modell, das noch heute in ähnlicher Form genutzt wird. Der schottische Mediziner Anderson G. McKendrick und sein Landsmann, der Biochemiker William O. Kermack, versuchten 1927, die für die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit relevanten Faktoren mathematisch zu identifizieren, indem sie die Bevölkerung in drei Gruppen einteilten: die Empfänglichen, die Infizierten und die Immunisierten. Mit Hilfe gekoppelter Differentialgleichungen konnten sie daraufhin beschreiben, wie sich die Zahl von Personen in diesen Gruppen mit der Zeit ändert, wenn die Ansteckung Gesunder durch Infizierte von Dauer und Grad der Infektiosität sowie der Kontaktrate beider Gruppen gesteuert wird.
Modelle dieser Art werden heute als SIR-Modelle bezeichnet, wobei die Buchstaben für die englischen Namen der verschiedenen Gruppen stehen: „Susceptible“, „Infected“, „Recovered“. Wenn man mit dem Modell die Dynamik der Covid-19-Epidemie wiedergeben will, dann muss man diese Kategorien aber noch um (mindestens) eine ergänzen: Da die Inkubationszeit, der Zeitraum zwischen Ansteckung und Erkrankungsbeginn, im Schnitt fünf bis sechs Tage beträgt, gibt es eine große Gruppe von Menschen, die „exposed“ – latent infiziert – sind. Wenn diese Gruppe mit berücksichtigt wird, spricht man von SEIR-Modellen. Im Prinzip lassen sich diese Modelle durch die Einführung zusätzlicher Gruppen beliebig erweitern, weiter aufgegliedert nach verschiedenen Altersgruppen etwa oder der Schwere der Symptomatik.