Was Viagra alles kann : Zufallsfund im Höhenrausch
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Für Männer, Hamster, Schnittblumen: Der „kleine blaue Diamant” Viagra Bild: picture-alliance / dpa
Vor zehn Jahren wurde Viagra zugelassen - als erste Pille gegen Impotenz. Inzwischen weiß man, dass ihr Wirkstoff noch viel mehr kann. Auch wenn dafür erst der Mount Everest bestiegen werden musste.
Wenn das Jahr 1998 eine Farbe hätte, wäre es Blau. Und zwar in jener Nuance, die jenseits von politischer Farbenlehre und Kunstdoktrin unmissverständlich verspricht, männliche Sehnsüchte mit Chemie zu erfüllen. Nicht die nach romantischer Liebe: Viagra-Blau bedient den Wunsch nach Sex. Im hohen Alter, wenn der Körper nicht mehr das nötige Stehvermögen besitzt. Oder wenn Krankheiten wie Diabetes, Arteriosklerose und Hormonstörungen die Leidenschaft in den Lenden zügeln.
Nicht nur im Penis wirkt Viagra, wie es sich bereits mehr als 35 Millionen Anwender ersehnten: „Wir setzen den Wirkstoff bei Lungenhochdruck ein und retten damit Leben“, sagt Friedrich Grimminger. Profitieren können Patienten mit Lungenfibrose, COPD und vermutlich mit Schistosomiasis, einer Parasitenkrankheit. Das Potenzmittel Viagra ist für den Direktor des Zentrums für Innere Medizin der Universität Gießen lediglich ein Türöffner: „Ein Schlüssel zum System des körpereigenen Botenstoffs Stickstoffmonoxid“, sagt Grimminger, „und ein Prototyp einer ganzen Substanzfamilie, die uns das Therapiekonzept einer intelligenten Gefäßweitung ermöglicht.“ Kurzum: Blut soll fließen, nach Bedarf und nicht überall.
Der „kleine blaue Diamant“ ersetzt Pumpen und Spritzen
Mit der Zulassung von Viagra am 27. März 1998 in den Vereinigten Staaten beginnt ein globaler Siegeszug, der sechs Monate später auch Deutschland erfasst und in Spam-E-Mails seither das Internet zur virtuellen Apotheke erklärt. Es ist die erste Pille, die Männer von Erektionsstörungen befreit und so von ihrer Urangst Impotenz. Wo vorher Vakuumpumpen und Spritzen zum Einsatz kamen, kann fortan ein kleiner „blauer Diamant“ - auf Rezept - rund vier Stunden lang wirken und eine erektile Dysfunktion beheben.
Diese Aufgabe übernimmt ein Wirkstoff namens Sildenafil, dessen Entwicklungsgeschichte Mitte der achtziger Jahre beginnt und heute als klassisches Beispiel eines Zufallsfunds gilt, entdeckt an der südostenglischen Küste im Pfizer-Forschungszentrum Sandwich. Dort suchten Chemiker eine Substanz, die ein bestimmtes Enzym, die Phosphodiesterase 5 (PDE5), blockieren sollte, um so die Herzkranzgefäße zu erweitern. Das von ihnen als UK-92480 entwickelte Sildenafil wurde nach vielversprechenden Tierversuchen schließlich klinisch getestet, im Jahr 1991 noch mit dem ursprünglichen Ziel, Angina pectoris zu behandeln. Eine dabei beobachtete Nebenwirkung bestimmt jedoch drei Jahre später das Testregime: Die Folgestudien konzentrieren sich auf das Erektionsvermögen der Probanden.
Es wirkt wie ein Restlichtverstärker
Sildenafil weckt kein Begehren, das nicht vorhanden ist, sondern unterstützt den natürlichen Blutfluss. Die Substanz wirkt, weil sie in das komplexe Geschehen im Schwellkörper des Mannes eingreift und für die nötige Entspannung sorgt. Bei sexueller Erregung wird hier im Unterkörper Stickstoffmonoxid freigesetzt: Dieses NO vermittelt lustvolle Botschaften des Gehirns an die Muskelzellen, die sich daraufhin entspannen und so zugleich die Arterien weiten - Blut kann einfließen und den Schwellkörper härten. Wie gut das gelingt, hängt außerdem von einem weiteren Botenstoff ab, dem cGMP. Werden davon zu wenig Signalmoleküle gebildet und schon enzymatisch abgebaut, bevor ihr NO-Auftrag erfüllt ist, bleibt es beim Wunsch nach praller Form.