Verlust von Nervenzellen : Der Darm ist unser zweites Gehirn
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Die Mastezelle wehrt Bakterien (rot) ab - und löst Allergien aus Bild:
Die Neurogastroenenterologie ist ein Forschungsgebiet, das sich derzeit rasant entwickelt. Schrumpft nämlich die Zahl der Nervenzellen im Verdauungstrakt, können schwere Krankheiten entstehen. Besonders häufig sind Diabetiker betroffen.
Der Magen-Darm-Trakt ist ein Bewegungskünstler. Vom Schlund bis zum After reicht das sieben Meter lange Schlauchsystem. Der virtuose Darmtrakt bewegt sich wie ein Schlangenmensch, selbst verschluckte spitze Gegenstände treibt er aus - fast immer ohne sich zu verletzen. Die komplexen Bewegungen des Darmes werden von mehr als hundert Millionen Nervenzellen gesteuert. Die Wissenschaftler sprechen vom Darmgehirn.
Wenn der Darm aus dem Tritt gerät, führt das nicht selten zu heftigen Beschwerden. Die Patienten klagen über Verdauungsprobleme, Durchfall, Verstopfung, Übelkeit und Erbrechen. Ursache ist ein Funktionsverlust des in den verschiedenen Schichten der Darmwand lokalisierten Nervensystems. Viele Krankheiten, nicht wenige Medikamente und nicht zuletzt die Abbauprozesse im Alter führen zu Schäden am Darmgehirn. Störungen der Darmmotilität sind immer häufiger Anlass zu einer Krankenhausbehandlung. Daher ist die Neurogastroenterologie f zu einem wichtigen Forschungsfeld geworden, wie auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten in der vergangenen Woche in Leipzig deutlich wurde.
Entzündungen und Schmerzen
Mehr als die Hälfte aller Zuckerkranken leide an - oftmals schweren - Motilitätsstörungen, berichtete Jutta Keller aus Hamburg. Unkoordinierte Öffnungen des unteren Schließmuskels der Speiseröhre sind die Ursache dafür, dass sich Magensäure bis in den Rachen verirrt. Entzündungen und Schmerzen sind die Folge. Besonders quälend für viele Diabetiker ist die verzögerte Magenentleerung, die als Gastroparese bezeichnet wird. Die Patienten erbrechen häufig. Die Einstellung der Blutzuckerwerte ist dann erschwert, denn die feine Abstimmung zwischen Nahrungsaufnahme und etwa einer Insulininjektion gelingt nicht mehr. Die Gastroparese ist alles andere als harmlos, sie geht mit einer um dreißig Prozent reduzierten Lebenserwartung einher. Dennoch werde sie von Ärzten oft nicht erkannt, weil sie sie zu selten in ihre Überlegungen einbezögen, sagte Keller. Ursache der Motilitätsstörung bei Diabetikern ist eine Verminderung von Nervenzellen und Ganglien im Darm. Zudem schädigen hohe Blutzuckerspiegel die im Interstitium gelegene Cajal-Zellen. Sie gelten als Schrittmacherzellen am Darm, die die Muskelzellen zur Kontraktion anregen.
Der Verlust von Nervenzellen im Darm zieht wiederum andere Krankheitsbilder nach sich: Ab dem sechzigsten Lebensjahr findet man bei jedem Dritten sogenannte Divertikel im Dickdarm. Dabei handelt es sich um Ausstülpungen der Darmwand. Die Divertikel können sich entzünden oder zu Blutungen aus dem Darm führen. Die Divertikelkrankheit, die zu den häufigen Erkrankungen des höheren Lebensalters zählt, muss heute als Nervenkrankheit des Darmes angesehen werden. Sie wird durch einen Verlust von Nervenzellen in der Darmwand ausgelöst, wie Thilo Wedel aus Kiel aufzeigte. Zusätzlich ist die Signalkaskade zwischen den Nervenzellen brüchig, denn die Konzentration der Botenstoffe ist erniedrigt. Die Kontraktionskraft der Darmwand lässt nach. Einzelne Abschnitte des Darmes sind in der Folge ständig überbläht, gleich den Wangen beim Blasen einer Concertina, meinte Wedel. Schließlich gibt die Darmwand nach, und Schleimhaut stülpt sich wie ein Säckchen nach außen.
Das Darmhirn kooperiert mit dem Immunsystem
Vieles spricht dafür, dass im Darm Immunzellen und das Nervensystem funktionell eng verknüpft sind, wie Sabine Bühner aus Freising-Weihenstephan an Tierexperimenten belegte. Die meist in der Bindegewebsschicht der Darmwand verstreuten Mastzellen produzieren bis zu siebzig verschiedene Mediatorsubstanzen, etwa Kinine und Gewebshormone. Beträufelt man Ganglienzellen aus dem Darm mit einem Cocktail dieser Stoffe, fangen die Nervenzellen an zu feuern, sie senden in hoher Frequenz elektrische Signale. Nach Ansicht einiger Wissenschaftler könnten diese Befunde die Entstehung des häufigen Reizdarmsyndroms erklären. Bei der für die Betroffenen oftmals quälenden Erkrankung kommt es zu einer überschießenden Darm-Peristaltik. Mastzellen könnten dabei eine wichtige Rolle spielen.
Die Interaktion zwischen Darmgehirn und Immunsystem erhält noch weitere Bedeutung, wenn man die Befunde im Lichte neuerer Erkenntnisse über die opportunistische Besiedelung des Darmes mit Keimen betrachtet. Der Darm beherbergt zehnmal mehr Mikroben, als der menschliche Organismus Zellen besitzt. Bei Gesunden besteht ein harmonisches Miteinander. Doch können Ungleichgewichte Störungen der Funktion des Darmes nach sich ziehen. Die Darmflora von Patienten mit Reizdarmsyndrom unterscheidet sich von derjenigen Gesunder, wie Stephan Bischoff aus Stuttgart berichtete. Daraus ergeben sich vielfältige Ansätze zur Behandlung: Bakterien, die das Gleichgewicht wiederherstellen, könnten gezielt gegen das Grimmen im Bauch eingesetzt werden.