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Umweltskandal : Woher kam das Zeug bloß?

  • -Aktualisiert am

Ein Feld mit Rosenkohl zwischen Rastatt und Bühl. Hier sind die Stoffe bereits ins Grundwasser eingedrungen. Bild: Rainer Wohlfahrt

Baden-Württemberg erlebt einen Umweltskandal erster Güte. Trinkwasser und Äcker sind mit Fluorchemie verseucht. Niemand will es gewesen sein, die Behörden mauern.

          14 Min.

          „Da drin fing letztes Jahr alles an“, sagt der Öko-Bauer Christoph Decker und deutet mit dem Finger auf das Gewächshaus. Sein Hof in Bühl bei Baden-Baden liegt nur wenige Kilometer vom Schwarzwald entfernt. Es ist ein kleiner Familienbetrieb, der nach strengen Demeter-Richtlinien arbeitet. Decker trägt ein knallgrünes Polohemd, darunter wölbt sich ein gemütlicher Bauch. Im Schutz der Glaswände zog er bisher Tomaten hoch, Zucchini, Paprika, Gurken und Salat, sogar Honigmelonen. In diesem Jahr wächst davon nichts mehr.

          Dort, wo seine Pflanzen gediehen, herrscht jetzt auf viertausend Quadratmetern Wüste, wie Decker die brachliegende Fläche nennt. Im Gewächshaus streichen ein paar Hühner zwischen Unkraut umher, hoch über dem verdorrten Boden rosten die Bewässerungsdüsen, die das verseuchte Wasser über Obst und Gemüse sprühten.

          Wo die Geschichte ihren Anfang nahm, wer die Verantwortung dafür trägt – darüber gibt es ebenso viel Streit wie unterschiedliche Versionen. Decker erzählt es so: Vor rund zehn Jahren erhielt er einen Anruf von einem benachbarten Komposthändler. Ob er Kompost brauche? Er müsse sich um nichts kümmern, das Material wäre gratis, sogar das Aufbringen auf den Acker. Kostenloser Kompost? Ein solches Angebot hatte ihm noch keiner unterbreitet. Decker kam das seltsam vor, er lehnte ab: „Ohne Analyse hätte ich den auf dem Ökohof ohnehin nicht aufbringen dürfen.“

          Flächenmäßig der größte Umweltskandal Deutschlands

          Solche Bedenken hatten andere Bauern in der Region nicht. Und so landete zwischen 2005 und 2008 tonnenweise Gratis-Kompost als Düngemittel auf ihren Äckern, dem Abfälle aus der Papierindustrie beigemischt waren. Diese Papierschlämme enthielten vermutlich Stoffe, die niemals auf die Felder und in die Umwelt hätten gelangen dürfen, und zwar sogenannte per- und polyfluorierten Chemikalien, kurz PFC.

          Die Region zwischen Bühl und Rastatt ist ein wichtiges Anbaugebiet für Obst und Gemüse. Mehr als 400 Hektar Land sind dort inzwischen mit fluororganischen Verbindungen verseucht.
          Die Region zwischen Bühl und Rastatt ist ein wichtiges Anbaugebiet für Obst und Gemüse. Mehr als 400 Hektar Land sind dort inzwischen mit fluororganischen Verbindungen verseucht. : Bild: F.A.Z.

          Umweltschützer sprechen mittlerweile vom flächenmäßig größten Umweltskandal Deutschlands. Die Behörden in den Landkreisen Baden-Baden und Rastatt entdecken immer neue Felder, die mit PFC verseucht sind. Inzwischen sind es mehr als 400 Hektar Land. Vor drei Jahren wurden diese Substanzen erstmals auch in einem Wasserwerk nachgewiesen. Seither ist in Mittelbaden nichts mehr wie zuvor. Wie sie ins Trinkwasser gelangen konnten, wird die Gerichte noch über Jahre beschäftigen.

          Dass sie darin entdeckt wurden, ist den Star-Energiewerken in Rastatt zu verdanken, die für die Wasserversorgung der Bevölkerung zuständig sind. Im Oktober 2012 ließ man das Trinkwasser eines Brunnens untersuchen. Dabei fanden sich erhöhte PFC-Werte. Zwei Wasserwerke mussten in der Folge abgestellt werden. In den vergangenen drei Jahren hing die Stadt Rastatt mit ihren knapp fünfzigtausend Einwohnern wie an einem Tropf. Nichts hätte mehr passieren dürfen – kein Rohrbruch, kein Stromausfall. Sonst wäre sauberes Wasser knapp geworden.

          Plantschbecken sollen nicht mit Brunnenwasser gefüllt werden

          Derzeit schwappt die PFC-Brühe unter einem Stadtteil Bühls. Wasser aus privaten Brunnen soll hier auch nicht dazu verwendet werden, um Tiere zu tränken oder den Garten zu gießen. Und auf keinen Fall sollen Planschbecken damit gefüllt werden, rät das Landratsamt. Auch in vier nahe gelegenen Seen sind die PFC-Konzentrationen zu hoch. Und mit dem Grundwasser verteilen sich die Chemikalien weiter.

          Warum so viele Bauern das Kompostgeschenk annahmen, ist im Nachhinein nicht mehr zu erfahren. Die meisten schweigen sich über das leidige Thema aus. Christoph Decker ist einer der wenigen, der offen darüber spricht. Hätten die Bauern etwas ahnen können? „Wenn mir jemand einen Apfel zusteckt, dann freue ich mich und frage nicht nach“, sagt er. „Aber wenn mir jemand zehn Kilo Äpfel schenkt, muss ich mich doch fragen, warum er das macht und was da in den Äpfeln wohl drin ist.“

          Er will jetzt vor allem wissen, wie gefährlich diese Stoffe sind. So hat er schon zahlreiche Stunden im Internet verbracht. Eines lernte er schnell: Von alleine werden die PFCs nicht wieder verschwinden. Das Problem bleibt der Region noch Jahrzehnte erhalten. Denn diese Substanzen kommen in der Natur normalerweise nicht vor und sind kaum abbaubar. Seit sechzig Jahren werden PFCs industriell verarbeitet, über die Gesundheitsrisiken ist dennoch wenig bekannt.

          Die PFCs sind wahrscheinlich krebserregend

          Dass es jedoch keine harmlosen Chemikalien sind, lässt ein Umweltskandal annehmen, der sich im amerikanischen Bundesstaat West Virginia ereignete. Zehntausende Menschen wurden dort über mehrere Jahrzehnte hinweg einer stark erhöhten PFC-Konzentration im Trinkwasser ausgesetzt. Ein Teflon-Werk des Chemiegiganten DuPont hatte giftige Abwässer in den Ohio River geleitet und wurde von der amerikanischen Umweltbehörde EPA im Jahr 2005 mit einer Geldstrafe von 16,5 Millionen Dollar belegt. Gleichzeitig veranlasste man eine Studie, bei der 70.000 Menschen in der Umgebung medizinisch untersucht wurden. Epidemiologen stießen auf mehr als fünfzig Krankheiten, die möglicherweise mit den Stoffen in Zusammenhang stehen, darunter 21 Krebsarten. Außerdem sprach ein Zivilgericht einer krebskranken Frau Schadensersatz in Höhe von 1,6 Millionen Dollar zu. DuPont akzeptierte die Strafe, sah darin aber kein Schuldeingeständnis.

          Einen Schuldigen hat man auch im Badischen noch nicht gefunden. Der Komposthändler Franz Vogel steht zwar im Fokus der Behörden und Gerichte, ob er aber als Verursacher in Frage kommt, ist offen. Vogel wurde in einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim dazu verpflichtet, die Voruntersuchungen der Böden zu bezahlen. Das Gericht hatte festgestellt, dass es sich bei dem Kompostgemisch „um die kostengünstige Entsorgung minderwertigen Materials und nicht um die Lieferung biologisch wertvollen Düngers gehandelt hat“. Als gerecht empfindet Komposthändler Vogel das Urteil nicht, das sagt er gleich beim ersten Anruf und lädt zum Gespräch ein. Es gebe neue Gutachten und mehrere Ungereimtheiten.

          Franz Vogel empfängt den Besuch auf seinem Kompostwerk in Bühl. Es ist Nachmittag und viel los; Hobbygärtner laden Grünschnitt ab, füllen ihre Eimer mit frischem Dünger, im Hintergrund stehen Kompostberge. Vogel bittet in den Konferenzraum, wo er Tiroler Granderwasser reicht. „Das belebt“, sagt Vogel, „trinken Sie.“ Positive Schwingungen sollen auch die Steine verbreiten, die er im ganzen Werk ausgelegt hat, damit das Böse draußen bleibt.

          Der Komposthändler weist die Vorwürfe von sich

          Mit am Tisch sitzen seine vier Berater, ein Pressesprecher und ein Rechtsanwalt, ein Umweltchemiker und ein Kompostexperte, Letztere im Ruhestand. Sie kennen seine Version der Geschichte, die Vogel jetzt erzählt. Demnach sollen die Gewerbeaufsicht und Papierfabriken Anfang der 2000er Jahre auf ihn zugekommen sein, ob er nicht Papierschlamm kompostieren könne.

          Vieles spricht dafür, dass es mit Papierschlämmen versetzter Kompost war, der die PFC enthielt. Der Betreiber der Anlage weist das aber weit von sich.
          Vieles spricht dafür, dass es mit Papierschlämmen versetzter Kompost war, der die PFC enthielt. Der Betreiber der Anlage weist das aber weit von sich. : Bild: Rainer Wohlfahrt

          Das Material ließ Vogel, wie er sagt, auf Schadstoffe und Schwermetalle untersuchen. Aber nicht auf PFC, das sei damals im Gegensatz zu heute nicht obligatorisch gewesen. Weil er den Papierschlamm für eine saubere und nützliche Sache hielt, sagte er zu und steht heute zu seinem großen Ärger unter dem Verdacht, ein übler Umweltverschmutzer zu sein.

          Vor drei Jahren erstattete jemand anonym Anzeige gegen Franz Vogel. Es sollen seine Kompostlieferungen gewesen sein, die Äcker und Wasser in der Region großflächig verseucht haben. Das Landratsamt Rastatt wurde sofort tätig, ließ den Boden der fraglichen Äcker analysieren. In den Proben fand sich tatsächlich PFC. „Du musst das gewesen sein“, habe man ihm mitgeteilt. Ein Schock für Vogel, der selbst biologischen Landbau betrieb und sogar den Umweltpreis der Stadt Baden-Baden erhalten hat. „Ich bin komplett unschuldig“, behauptet der Komposthändler und führt zahlreiche Ungereimtheiten an, auf die sein Team gestoßen sei. Zum einen habe die Behörde das Zeug auch auf Äckern gefunden, wo sein Kompost gar nicht aufgebracht wurde. Zum anderen ließe sich eine derart großflächige und starke Belastung nicht durch die verteilte Menge erklären.

          Außerdem ließ Vogels Team auf eigene Faust Proben von einem belasteten Feld in einem Labor untersuchen. Darin entdeckte man überraschenderweise Kunststofffasern, aber kein Papier. Kein Wunder: Papier verrotte innerhalb von Wochen oder Monaten, sagen Vogels Berater, nach Jahren hätte man kein Material finden dürfen. Stimmt das? Und woher stammt die PFC-Belastung dann?

          Warum hat der Komposthändler die Papierschlämme verschenkt?

          Der Bodenkundler Wulf Amelung von der Universität Bonn bestätigt, dass Zellulose im Boden innerhalb weniger Monate abgebaut wird. Allerdings sei es in nassen oder lehmigen Böden möglich, dass sie überdauern. Das Regierungspräsidium Karlsruhe wiederum lässt keine Zweifel am Befund: „Als ein Bestandteil des Komposts wurden Papierschlämme identifiziert“, teilt ein Sprecher nüchtern mit. Der Plastikfund entlastet Vogel jedenfalls nicht.

          Bisher konnte Franz Vogel den Verdacht, dass sein Kompostgemisch verantwortlich ist, gegenüber Gerichten und Behörden nicht ausräumen. Auf Äckern, die er damit beliefert hatte, ließen sich die Chemikalien nachweisen. Vogels Anwalt kritisiert dennoch die „dünne Beweisführung“: Die Behörden hätten noch andere Ursachen der Verschmutzung in Betracht ziehen müssen. Doch die amtliche Vorgehensweise ist vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim bereits anerkannt worden.

          Vogel hofft, nun einen Trumpf gefunden zu haben. Er bittet nach draußen zur Sickergrube, wohin angeblich alle Abwässer seines Unternehmens fließen, und schiebt den Schachtdeckel zur Seite. Vor ein paar Wochen kam ihm eine Idee: Wenn das Umweltgift auf seinem Gelände im Kompost gelagert hätte, dann müsste es auch dort unten nachzuweisen sein. In Proben, die er dem Institut Fresenius schickte, fand sich kein PFC. Das beweist natürlich nicht seine Unschuld, aber Vogel ist davon überzeugt, dass sein Kompostgemisch hochwertig war. Bloß warum hat er es als Geschäftsmann dann verschenkt? Zur allgemeinen Bodenverbesserung, antwortet er. Geld hätte er ja bereits von den Papierfabriken erhalten.

          Die Chemikalien sickern seit Jahren ins Grundwasser

          In Mittelbaden blüht die Landwirtschaft. Spargelstangen gedeihen hier, Erdbeeren und Mais. Es ist inzwischen ein bisschen wie in Tolkiens Auenland: schön, aber nicht geheuer. Mindestens 400 Hektar Ackerboden gelten mittlerweile als PFC-verseucht. Die Pflanzen, die darauf wachsen, nehmen die Substanzen unterschiedlich auf. Über Jahre hinweg landeten so womöglich belastete Lebensmittel auf dem Tisch der Verbraucher. Allerdings ist das aus Expertensicht das kleinere Problem, verglichen mit weit gravierenderen Folgen: Die Chemikalien sickern unaufhaltsam ins Grundwasser. Ausgerechnet in einer Region, in der Einwohner normalerweise vom Wasserreichtum profitieren. Denn tief unter Rastatt und Baden-Baden strömt der verzweigte Oberrhein-Aquifer, einer der größten unterirdischen Flüsse Europas, in Richtung Norden.

          Ökobauer Christoph Decker kann seine Ernte vergessen.
          Ökobauer Christoph Decker kann seine Ernte vergessen. : Bild: Rainer Wohlfahrt

          Mit PFC verunreinigtes Wasser ist bereits unbemerkt in Haushalte und Betriebe geflossen, sprudelte dort als Trinkwasser aus den Hähnen. Und gelangte auf diesem Wege auch in das Gewächshaus des Öko-Bauern Christoph Decker, der es arglos für seine Beregnungsanlage nutzte. Wie lange und in welcher Konzentration die Fluorchemikalien durch die Leitungen quollen, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Der Boden in Deckers Gewächshaus ist jedenfalls unbrauchbar. Der Austausch würde etwa eine halbe Million Euro kosten, niemand bezahlt ihm das.

          Mehr als eine Milliarde, zwei oder gar drei Milliarden Euro müsste man wohl veranschlagen, um das verseuchte Erdreich im Freiland zu ersetzen. Die Böden der Gegend sind sandig und dementsprechend durstig. Viele Bauern bewässern ihre Felder, illegale Brunnen sind eher die Regel als die Ausnahme. Und je häufiger dadurch verseuchtes Wasser auf die Äcker rieselt, desto mehr PFC reichern sich an.

          Handeln die Behörden im Interesse der Verbraucher?

          Mehr als drei Jahre ist der Skandal jetzt aktenkundig. Es ist ein schwieriger Fall: Weder die Ursache noch das Ausmaß sind bekannt, auch weiß man wenig über die tatsächlichen Gesundheitsgefahren. Für Wasser und Lebensmittel existieren nicht einmal Grenzwerte in Deutschland, die zuständigen Ministerien in Baden-Württemberg haben notgedrungen verbindliche Werte festgelegt. Zwar haben die lokalen Ämter sofort reagiert, es wurden umfassende Untersuchungen in Auftrag gegeben, es wurde beprobt, gewarnt und begutachtet. Trotzdem muss man sich fragen, ob die zuständigen Beamten und Politiker immer korrekt und im Interesse der Bevölkerung gehandelt haben. In welcher Version die Geschichte des PFC auch erzählt wird – sie bezeugt in vielerlei Hinsicht politisches Versagen. Die Liste der Fehleinschätzungen und Merkwürdigkeiten ist jedenfalls lang.

          Dazu gehört, dass der Landwirtschaftsbetrieb um jeden Preis aufrechterhalten werden sollte. Bauern dürfen bis heute auf verseuchten Äckern unter bestimmten Auflagen Obst und Gemüse anbauen. Zum Beispiel sollen nur solche Pflanzen zum Einsatz kommen, die kein PFC einlagern. Und noch im Juli 2014 bescheinigte das Landwirtschaftsamt Rastatt die „Unbedenklichkeit für den Verzehr der beprobten Lebensmittel“, weil die Belastungen der Böden angeblich nicht ausreichten, um die dort wachsenden Pflanzen stärker zu kontaminieren.

          Eine Fehleinschätzung: Vier Monate später musste man einräumen, es seien dann doch Unterschiede zwischen den Kulturpflanzen erkennbar. Zudem sei „die PFC-Aufnahme bei einigen Pflanzen und Kulturen gegeben“, hieß es in schönstem Behördendeutsch. Ein Jahr später teilte das Landwirtschaftsamt den verblüfften Bürgern während eines Infoabends mit, dass „in einigen Fällen die PFC-Werte der Feldfrüchte über den Vorsorge-Werten lagen“; auch sei es nun doch nicht unproblematisch, PFC-haltiges Beregnungswasser zu verwenden. Fazit: PFC-verseuchte Böden seien grundsätzlich „für die Erzeugung von Lebensmitteln problematisch beziehungsweise nicht geeignet“. Da waren Spargel, Erdbeeren und Salate längst verzehrt.

          Fehleinschätzungen und Merkwürdigkeiten

          Diese Art der Verschleppung bezeichnet das Regierungspräsidium Karlsruhe wiederum als einen „Prozess zunehmenden Erkenntnisgewinns“. Die ersten Untersuchungen von Pflanzen und Lebensmitteln hätten Sondierungscharakter gehabt, heißt es. Außerdem habe man nur eine Untergruppe der fraglichen Umweltgifte, nämlich die langkettigen PFC untersucht. Mit den kurzkettigen würde sich bundesweit niemand beschäftigen, weshalb man nichts Genaues wüsste, ließen die Behörden auf Informationsveranstaltungen verkünden. Die ersten Freilandversuche würden deshalb nun 2016 im Landwirtschaftlichen Technologiezentrum Augustenberg bei Karlsruhe stattfinden.

          Warum so spät? Schon eine schnelle Internetrecherche zeigt, dass die kurzkettigen PFC längst erforscht werden. Intensiv widmet sich ihnen zum Beispiel der Umweltchemiker Thorsten Stahl vom Hessischen Landeslabor. Sie gelten als äußerst mobil, persistent und gefährlicher als die langkettigen PFC. Seit sieben Jahren beschäftigt sich Stahl mit diesem Thema. Aber er sei nicht der Einzige in Deutschland, es gebe noch weitere Arbeitsgruppen, schreibt er per Mail.

          Hätten die badischen Behörden den Experten aus Wiesbaden von Anfang an miteinbezogen, wären sie vielleicht nicht ausgerechnet auf Mais als Anbaualternative verfallen, wie es etwa in diesem Jahr noch das Regierungspräsidium Karlsruhe empfahl. Diese Kulturpflanze nimmt die Substanzen vermutlich ebenfalls auf und lagert sie in den Körnern ein. Riskant bis fahrlässig war jedenfalls die Entscheidung, kontaminierte Feldfrüchte einfach auf den Feldern zu lassen und unterzupflügen. Auch ist es gängige Praxis, dass belastetes Getreide als Verschnitt an Tiere verfüttert wird. Denn damit bleiben die Chemikalien im Kreislauf.

          Die Landwirtschaft wird aufrechterhalten - um jeden Preis

          Wieso der Anbau auf den belasteten Flächen nicht verboten wird, bleibt rätselhaft. Stehen die Landwirte unter besonderem Behördenschutz? Das Beispiel des Öko-Bauern Christoph Decker veranschaulicht, wie schnell berufliche Existenzen bedroht sein können, wenn Gewächshausflächen oder ganze Felder brachliegen. Dass man in dieser brisanten Situation weiterhin Landwirtschaft betreibt, hält Decker allerdings für verantwortungslos: „Wir können doch nicht warten, bis man weiß, wie giftig diese Stoffe wirklich sind.“

          Ein Bauer, der anonym bleiben will, berichtet von regelmäßigen Treffen der Landwirte mit Vertretern des Regierungspräsidiums und des Landratsamtes. Im Gegensatz zu anderen Informationen dringe davon nichts an die Öffentlichkeit: „Hier scheut man wohl die Reaktion der Verbraucher“, sagt er. Vielleicht fürchtete man auch den Imageschaden, als die Behörden entschieden, dass Verbraucher nicht erfahren sollen, ob dieser oder jener Spargel von einem PFC-belasteten Acker stammt. Datenschutz scheint dann doch wichtiger zu sein als Verbraucherschutz.

          Noch gravierender ist die Lage allerdings beim Wasser. Der Schutz der Umwelt ist ein im Grundgesetz verankertes Ziel. Jede Gewässerverunreinigung stellt eine Straftat dar. In Mittelbaden sehen die Behörden trotzdem keine Möglichkeit, Sofortmaßnahmen gegen die Verseuchung des Grundwassers zu ergreifen. Die betroffenen Gebiete werden erst einmal fünf Jahre lang entsprechend der Altlastenbewertung untersucht, entschied eine eigens gegründete Bewertungskommission der Stadt Baden-Baden und des Landratsamtes Rastatt am 15. Juni 2016. Ein Gutachten habe gezeigt, „dass keine akute Gefährdung der Wasserversorgung und der Wasserqualität in der Region besteht“, teilte die Kommission mit.

          Der Wassererker will sauberes Wasser, die Behörden warten ab

          Widerspruch kam prompt: Zwei Tage später meldeten sich die für das Rastatter Trinkwasser verantwortlichen Star-Energiewerke zu Wort. Die Darstellung der Bewertungskommission sei „so nicht korrekt“. Ein eigenes Gutachten habe gezeigt, dass die Trinkwasserversorgung gefährdet sei, hieß es in einer Pressemitteilung. Daraufhin gaben Baden-Badens Bürgermeister Michael Geggus und Rastatts erster Landesbeamter Jörg Peter gegenüber der Lokalzeitung an, sie würden jenes Gutachten gar nicht kennen. Seltsam, denn erst im Mai hatte es ein Wasserexperte der Star-Energiewerke im Baden-Badener Rathaus vorgestellt. Vor der Bewertungskommission hatte er insbesondere über die Gefährdung des Hauptwasserwerks Rastatt-Ottersdorf berichtet.

          In Auftrag gegeben hat dieses Gutachten Olaf Kaspryk, der Geschäftsführer der Star-Energiewerke. Seit die Chemikalie erstmals in einem seiner Brunnen nachgewiesen worden ist, hat er ein Problem: Er kann nicht warten, bis ein Schuldiger feststeht, und nicht zusehen, wie das Zeug weiter zirkuliert. Er muss sauberes Trinkwasser für Zehntausende Menschen garantieren. Und zwar jetzt.

          Wenn man ihn heute trifft, dann wundert er sich noch immer. Vor allem über die Behörden, von denen er sich im Stich gelassen fühlt. Er trägt immerhin eine Verantwortung, die keiner sonst übernehmen will. So sitzt er in seinem Rastatter Büro, vor sich eine Karte des Landkreises und wird zunehmend nervös. Die Wasserwerke sind darin eingezeichnet, der Grundwasserstrom und Dutzende rote Markierungen. Jede einzelne steht für einen PFC-Fund. Als er damals den ersten Brunnen untersucht hatte, konnte er das Ergebnis zunächst gar nicht glauben. Kaspryk ließ weitere Proben analysieren. Die Werte stiegen noch. Heute rechnet er damit, dass sich die PFC-Verseuchung zu einem der größten Umweltskandale Deutschlands auswächst.

          Im Hochsauerland tauchten die Stoffe erstmals in Deutschland auf

          Zwei Wasserwerke musste Kaspryk bereits abstellen. „Sehen Sie, hier“, sagt er und tippt mit dem Finger auf die Karte, während sein Blick weiter nach Norden wandert, zum Hauptwasserwerk Ottersdorf. Hier wird die Brühe, so hat das eigene Gutachten gezeigt, in zwei Jahren ankommen. Aber wie passt das zur Einschätzung der Behörde? Dort heißt es ja nach wie vor, das Trinkwasser sei sicher. Der Baden-Badener Bürgermeister Geggus teilt in einer Mail mit, dass keine akute Gefahr drohe. Höchstens langfristig könne „eine Gefährdung nicht ausgeschlossen werden“, schreibt er.

          Zur offiziellen Einschätzung befragt, ringt Kaspryk sichtbar um Fassung und setzt mehrfach an, bevor er weiterspricht. Die Star-Energiewerke, sein Arbeitgeber, gehören der Stadt Rastatt, im Aufsichtsrat sitzt der Oberbürgermeister. Er fühlt sich nicht ohne Grund unter Druck.

          Andere können seine Sorgen besser verstehen. Im März lud Kaspryk zwei Dutzend Experten zum Workshop nach Rastatt ein. Sie reisten von überall dort in Deutschland an, wo PFC ebenfalls ein Problem ist. Zum Beispiel aus dem Hochsauerland, wo die Substanzen im Jahr 2006 erstmals in Deutschland auftauchten. Von dort stammt die erste Langzeituntersuchung: Bei Kindern, die PFC mit der Nahrung aufnahmen, setzte die Pubertät verspätet ein, fand die Universität Bochum zusammen mit dem Umweltbundesamt heraus.

          Der Austausch mit den Kollegen half Kaspryk, Trost fand er nicht: „Alle haben gesagt: Wir hatten das Problem auch. Aber nicht in dieser Dimension.“ Deshalb wandte sich der Wasserwerker Anfang Juli an das Umweltministerium von Baden-Württemberg, das immerhin von den Grünen geführt wird. In einem Schreiben, das dieser Zeitung vorliegt, heißt es: „Wir wenden uns mit großer Sorge an Sie. Unsere Trinkwasserversorgung ist akut bedroht.“ Nicht nur die vergifteten Äcker führt er darin an, sondern auch einen Feuerwehreinsatz aus dem Jahr 2010, bei dem PFC-belasteter Löschschaum ins Grundwasser sickerte, worüber ihn die Stadt Baden-Baden aber nicht informiert habe. Erst freiwillige Untersuchungen hätten das Gift aufgespürt. Die Folge: Ein Notwasserwerk musste komplett vom Netz genommen werden. Derzeit werde eine neue Verbindung gebaut. Die Kosten trägt am Ende der Bürger.

          Der Schaden wird nicht behoben. Er wird verwaltet

          Doch auch das baden-württembergische Umweltministerium sieht bisher keinen Anlass, sofort etwas gegen die Verseuchung des Grundwassers zu tun. Die bisherigen Untersuchungen hätten ja gezeigt, dass „aufgrund der komplexen Belastungssituation und der außergewöhnlich großen betroffenen Fläche leider keine geeigneten Sofortmaßnahmen zur Verfügung stehen“, teilt das Ministerium mit. Zudem verweist es auf die rechtlichen Vorgaben, die gemäß dem Bundesbodenschutzgesetz erfolgen.

          Diese Haltung empört nicht nur Umweltschützer und Wasserexperten. Das Wasserhaushaltsgesetz werde sträflich missachtet, meint Gunter Kaufmann, ein ehemaliger SPD-Landtagsabgeordneter aus Rastatt. „Notwendig sind dringend Sanierungsmaßnahmen durch die öffentliche Hand“, sagt er. Solche Verfahren gibt es bereits: Mit Aktivkohle lassen sich Chemikalien herausfiltern und auch mit Membranverfahren. An anderen Orten in Deutschland haben sie sich bereits bewährt.

          Kaufmann findet es sonderbar, dass sich das Umweltministerium am rechtlichen Rahmen des Bodenschutzgesetzes orientiere und dabei die notwendige Sanierung des Grundwassers vernachlässige. Denn es geht auch anders, wie der PFC-Fall im Hochsauerland belegt: Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen entschied vor einem Jahr, dass das Grundwasser grundsätzlich unbelastet zu sein habe. Deshalb dürften solche Stoffe „überhaupt nicht in ein Medium eingetragen werden“, schrieb das Verwaltungsgericht in seinem Urteil. Selbst eine geringe Wahrscheinlichkeit der Wasserverschmutzung reiche aus, damit die Behörden bei der Sanierung tätig werden dürfen, stellte das Oberverwaltungsgericht fest.

          Endlich wieder Wassersicherheit, das wollen am Ende alle. Nur die Behörden wollen zunächst einmal Rechtssicherheit. Der Schaden wird nicht behoben, er wird verwaltet. Bis 2021 wird untersucht, frühestens dann gehandelt, lautet der Plan. Fünfzehn lange Jahre werden dann vergangen sein. Jahre, in denen die Brühe weitergeflossen sein wird. Weiter nach Norden, Richtung Karlsruhe.

          Teile der Recherche wurden vom „Netzwerk Recherche“ unterstützt.

          Das Problem: Polyfluorierte Chemikalien

          Pfannen, in denen nichts anbrennt, Outdoorjacken, die Regen abweisen, Handys, die nicht zerkratzen – in all diesen Produkten stecken poly- oder perfluorierte Chemikalien (PFC). Diese Wundermittel der Industrie weisen Wasser, Schmutz und Fett ab und werden deshalb in Hunderten von Produkten eingesetzt. Verwendung finden sie bei der Herstellung von Kaffeebechern, Pizzakartons und Lebensmittelverpackungen, aber auch bei Wachsen, Farben, Pestiziden sowie Imprägniersprays. Ihre Wirkweise verdanken sie Kohlenstoffketten verschiedener Längen, bei denen die Wasserstoffatome vollständig (perfluoriert) oder teilweise (polyfluoriert) durch Fluoratome ersetzt sind.

          Mehr als achthundert dieser künstlich hergestellten Chemikalien werden unterschieden. Jährlich werden Tausende Tonnen davon produziert und verarbeitet. Experten unterscheiden kurzkettige (mit einer Kettenlänge von sechs oder weniger Kohlenstoffatomen) von langkettigen PFC. Einige wenige der langkettigen sind bereits streng reglementiert oder ganz verboten. Aber auch die kurzkettigen sind nach Angaben des Umweltbundesamts alles andere als ungefährlich. „Diese Stoffe gehören nicht in die Umwelt“, sagt die Chemikalienexpertin Lena Vierke.

          Da die Stoffe in der Natur nicht vorkommen, können sie dort praktisch nicht abgebaut werden. PFC-Verbindungen sind äußerst stabil. Sie haben sich mittlerweile weltweit verteilt, man findet sie in Flüssen, in Meeren, auf Bergen, selbst in der Arktis, im Himalaja und in der Tiefsee wurden sie schon nachgewiesen. Besonders mobil sind vor allem die kurzkettigen Molekülketten. Über die Nahrungskette und die Luft gelangen sie in die Organe von Mensch und Tier. Beim Menschen ist das Umweltgift bereits im Blut und in der Muttermilch nachgewiesen worden.

          In Deutschland sind polyfluorierte Chemikalien erstmals vor zehn Jahren im Hochsauerland gefunden worden. Mittlerweile gibt es Dutzende, wenn auch sehr begrenzte Fundstellen. Rund um Flughäfen wie in Düsseldorf und Nürnberg sind Böden und Wasser ebenfalls verseucht. Dort kam mit PFC versetzter Löschschaum zum Einsatz. In den Vereinigten Staaten sollen nach einer Studie der Harvard University vom August mehr als sechs Millionen Menschen über PFC-verseuchtes Trinkwasser bedroht sein.

          Obwohl die Stoffe seit sechzig Jahren hergestellt werden, ist über ihre Gesundheitsgefahr wenig bekannt. Es existieren noch nicht einmal detaillierte Grenzwerte. Bis zu einem Wert von 0,3 Mikrogramm pro Liter seien sie im Trinkwasser unbedenklich, teilt das Umweltbundesamt mit. Steigt die Konzentration über 0,5 Mikrogramm, soll das Wasser von Schwangeren und Kindern nicht mehr getrunken werden. Die EU denkt derzeit über die Einführung von Grenzwerten und Verboten nach, mit ersten Ergebnissen ist voraussichtlich im nächsten Jahr zu rechnen.

          Wissenschaftler jedenfalls sind alarmiert. Bei einem Symposion vor einem Jahr in Madrid riefen mehr als zweihundert PFC-Experten die Vertreter von Industrie und Politik dazu auf, die Produktion der riskanten Stoffe zu begrenzen und nach sicheren Ersatzstoffen zu suchen. Versuche an Mäusen, Ratten und Affen hätten bereits gezeigt, dass solche Chemikalien das Immunsystem schwächen und offenbar zur Krebsentstehung beitragen können. Allerdings lassen sich solche Tierversuche nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen.

          Trotzdem halten es Mediziner für wahrscheinlich, dass einige dieser Verbindungen verschiedene Krebsarten auslösen und die Fortpflanzungsfähigkeit von Männern und Frauen beeinträchtigen. Außerdem stehen sie im Verdacht, das Hormonsystem zu stören und Erkrankungen der Schilddrüse auszulösen. Kinder mit höherer PFC-Konzentration im Blut zeigten einen verminderten Impferfolg bei Diphterie und Tetanus, zudem setzte ihre Pubertät verspätet ein. Das Umweltbundesamt bewertet die Fluorchemikalien wegen ihrer persistenten, toxischen und teratogenen, also Fehlbildungen hervorrufenden Eigenschaften als „besonders besorgniserregend“.

           

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