Seltene Krankheiten : Nur Mut, Dr. Fajgenbaum
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Isabel leidet an den Folgen einer Gehirnentzündung im Kleinkindalter, verursacht von Herpessimplex-Viren. Sie ist Epileptikerin, stumm, autistisch, hört schlecht; ein Schlaganfall verletzte ihr Gehirn, was sie zusätzlich einschränkt. Disney-Filme schaut sie mit den passenden Puppen. Bild: Ceridwen Hughes
Millionen Menschen weltweit leiden an seltenen Krankheiten. Um Diagnose und Therapie zu verbessern, lotet ein Arzt, der zugleich Betroffener ist, neue Wege aus.
Einen Tag nachdem ein Priester an sein Bett gekommen war, ihm die Sterbesakramente gespendet und David Fajgenbaum sich bereits vom Leben verabschiedet hatte, schlug das Medikament an. Seine Krankheit hatte den amerikanischen Medizinstudenten schon zweimal fast umgebracht, weitere Attacken standen ihm allerdings noch bevor. Angefangen hatte es 2010 damit, dass er nachts im Schlaf extrem schwitzte.
Morgens kam Fajgenbaum dann kaum aus dem Bett, Appetit hatte er keinen mehr und war ständig müde. Nach zwei Wochen konnte sich der zuvor durchtrainierte Mann nur noch schwer auf den Beinen halten; auf seinem Oberkörper traten Blutgefäße hervor, die Lymphknoten schwollen an. Nachdem er mit letzter Kraft eine Prüfung geschrieben hatte, schleppte sich Fajgenbaum hinüber in die Notaufnahme. Das Ergebnis der Untersuchung war niederschmetternd: „Ihre Nieren, Ihre Leber und Ihr Knochenmark gehen in die Knie. Und wir wissen nicht, warum“, sagten die Ärzte.
Vom Sportler zum Wrack
Inzwischen ist Fajgenbaum Anfang 30, Assistenzprofessor für seltene Erkrankungen an der University of Pennsylvania, in Philadelphia, und er kennt die Ursache seiner Verwandlung vom Sportler zum Wrack: Morbus Castleman. Eine Krankheit, an der in den Vereinigten Staaten weniger als 8000 Menschen leiden. Der Mediziner empfängt Besucher in seinem Büro, das fünf Stockwerke über der Notaufnahme liegt, in der sein Kampf gegen das rätselhafte Leiden begonnen hatte. Bis heute führt er ihn fort – als Arzt, Wissenschaftler und Patient. Mit beachtlichem Erfolg. In Zusammenarbeit mit Kollegen und einer Pharmafirma erreichte er sogar, dass ein erstes Medikament zugelassen wurde. Fajgenbaums Geschichte ist jedoch nicht nur für Leidensgenossen wichtig, sie könnte darüber hinaus als Leitfaden dienen, um Menschen zu helfen, die an seltenen Erkrankungen leiden. Und das sind keinesfalls wenige.
Zwar betrifft eine seltene Erkrankung nach der Definition der EU höchstens einen von 2000 Menschen. Weil es aber mehr als 7000 solcher Krankheiten gibt, sind es viele Betroffene: deutschlandweit mehr vier Millionen, in der EU bis zu dreißig Millionen, und nur für etwa jeden Zehnten existiert eine spezifische Therapie. Meist handelt es sich um genetisch bedingte Leiden, die früh in Erscheinung treten und chronisch verlaufen. Mit der richtigen Diagnose fangen die Probleme aber erst an, denen sich ein Gesundheitssystem stellen muss: Wie lassen sich seltene Erkrankungen besser erkennen? Was kann die Forschung beitragen und wie kosteneffektiver arbeiten? Das Geld im Medizinsystem ist schließlich begrenzt, das ist nicht nur den Ökonomen bewusst.
Kein Experte konnte seine Fragen beantworten
In Fajgenbaums Fall wurde sein fitter Körper zum Ballon. Flüssigkeit lagerte sich ein, das Gehirn arbeitete langsamer. Die Diagnose erhielt er elf Wochen nach den ersten Symptomen. Zunächst tippten die Ärzte auf Pfeiffersches Drüsenfieber, aber im Blut fand sich keine Spur einer akuten Infektion mit Epstein-Barr-Viren. Doch Krebs? Ein bösartiges Lymphom schied nach einer Knochenmarkspunktion ebenfalls als Erklärung aus. Antikörper, die auf eine Autoimmunkrankheit wie etwa Lupus erythematodes hinweisen würden, suchte man vergebens. Erst als Ärzte in seiner Heimatstadt sich einen der Lymphknoten vornahmen und eine Probe an die Mayo-Klinik in Minnesota schickten, fand man typische Veränderungen. Der Assistent, der die Diagnose überbrachte, sagte: „Sie haben Morbus Castleman. Aber ich habe keine Ahnung, was das ist.“ Dieses 1954 vom Pathologen Benjamin Castleman beschriebene Leiden wird inzwischen als eine Mischform aus Autoimmunerkrankung, Krebs und Entzündung angesehen. Fajgenbaum durchforstete sofort das Internet, auch er hatte noch nie davon gehört. Was er fand, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Bei Wikipedia hieß es damals, nur jeder Fünfte überlebe die ersten fünf Jahre nach der Diagnose. Heute weiß man, dass es zwei Drittel der Patienten sind. Fehlinformation und mangelnde Kenntnis unter Ärzten, beides sei bei seltenen Krankheiten häufig, sagt Fajgenbaum. Sieben Jahre dauert es durchschnittlich, bis ein Patient seine Diagnose erhält. Vier von zehn Patienten werden mindestens einmal falsch eingestuft oder falsch therapiert.
Nach zwei weiteren Schüben und einer Vielzahl an Medikamenten, welche die Krankheit notdürftig in Schach hielten, überschüttete Fajgenbaum einen der weltweit führenden Castleman-Experten mit Fragen: Warum greift mein Immunsystem meine Zellen an? Welche Immunzellen stecken dahinter, und was läuft in ihnen falsch? Was setzen sie frei? Aber auch der erfahrene Frits van Rhee konnte dies nicht beantworten, so beschloss Fajgenbaum, sich selbst zu kümmern und den Rest seines Lebens dieser Krankheit zu widmen. Er begann zu sammeln, wer zu Morbus Castleman forschte und was man bereits darüber wusste. „Die Forschung war total ineffizient, Forscher arbeiteten nicht zusammen“, fasst der Mediziner ernüchtert zusammen. In den verschiedenen Labors führte man deshalb immer wieder ähnliche Experimente durch. Um derartige Organisationsprobleme zu lösen, studierte Fajgenbaum Betriebswirtschaft und rief zusammen mit Frits van Rhee das Castleman Disease Collaborative Network (CDCN) ins Leben. Mit dem Ziel, die Forschungslandschaft zu vernetzen und die Aufmerksamkeit der Beteiligten darauf zu lenken, was wichtig ist, um das Syndrom zu verstehen und zu behandeln.
Ein Netzwerk wird gegründet
Fajgenbaum schrieb Tausende von E-Mails, führte Hunderte Telefonate und schaffte es, 32 Forscher aus acht Ländern für seinen wissenschaftlichen Beirat zu gewinnen. Und anhand der Antworten auf die einfache Frage „Was muss die Wissenschaft tun, um in der Behandlung voranzukommen?“ arbeitete das Netzwerk eine Agenda aus. Zuerst, waren sich die Wissenschaftler einig, müsse man sich auf Kriterien einigen, um die Erkrankung zweifelsfrei zu identifizieren. Bis dato redeten Ärzte oft aneinander vorbei und meinten verschiedene Dinge, wenn sie von Morbus Castleman sprachen. Dafür brauche es eine Biobank, in der die Blutproben und Lymphknotenpräparate gesammelt wurden, das sei der zweite Schritt. Und drittens müsse man ein internationales Register von Patienten führen, in das solle einfließen, wer welche Behandlung bekam und wie lange die Patienten überlebten. Erst dann könne man nach den Ursachen der Erkrankung und Therapien suchen.
Dem Castleman-Netzwerk gelang es so, die ersten diagnostischen Kriterien für die Erkrankung zu entwickeln. Diese basieren auf Laborwerten sowie Lymphknotenproben von Patienten aus aller Welt und wurden dieses Jahr im Fachjournal Blood veröffentlicht. Man unterscheidet nun eine unizentrische Form, bei der ein einzelner Lymphknoten betroffen ist, von der systemischen Ausprägung. Die unizentrische Erkrankung ist mit einer Operation oft heilbar, eine systemische meist nicht. Letztere kann durch das Humane-Herpes-Virus 8 hervorgerufen werden, was insbesondere Aids-Patienten trifft; HHV-8 setzt bestimmten Immunzellen zu. Mit Hilfe des Medikaments Rituximab, eines Antikörpers, lassen sich diese B-Lymphozyten aber aus dem Verkehr ziehen und die Krankheit in den Griff bekommen.
Wenn HHV-8 allerdings keine Rolle spielt, handelt es sich um die dritte Form des Castleman-Syndroms. Diese tritt ebenfalls systemisch, also am ganzen Körper in Erscheinung, doch niemand weiß bislang, warum die Entzündungsbotenstoffe in hohen Konzentrationen durchs Blut rauschen. Sie greifen Blutgefäße und Organe an, wie in dem beispielhaften Fall von David Fajgenbaum. Für die Suche nach den Ursachen hat das Castleman-Netzwerk bereits mehr als 800.000 Dollar eingeworben, und dieses Geld geht nicht einfach an irgendein Team, das sich um eine Förderung für ein Projekt bewirbt, sondern nur an die Besten, erklärt Dustin Shilling, stellvertretender Leiter für Forschung im CDCN: „Wir besorgen das Geld, wissen ganz genau, was damit erforscht werden soll, und geben es den absoluten Experten im Feld.“ Um auszuschließen, dass hinter der HHV-8-negativen Form des Syndroms ein anderes Virus steckt, beauftragte man Ian Lipkin von der Columbia University. Er gilt als Koryphäe, wenn es um das Aufspüren unbekannter Erregers geht. Anfang 2018 will er seine Ergebnisse vorlegen. Das wäre vergleichsweise schnell, aber abgesehen davon hat das Netzwerk in fünf Jahren noch einiges erreicht. Man lässt die Pharmaindustrie zum Beispiel für den Aufbau eines Patientenregisters bezahlen, hat Diagnosekriterien erarbeitet, eine Biobank eingerichtet. Mit dem Medikament Siltuximab, das als Interleukin-6-Hemmer den Sturm der Botenstoffe abfangen soll, ist ein erstes Mittel zugelassen und ein zweites könnte bald folgen. Derzeit wird das Präparat Sirolimus erprobt, das zum Beispiel nach Transplantationen eingesetzt wird, um die Abwehrreaktionen zu bremsen. Castleman-Patienten erhalten es nun unter anderem, damit in die Lymphknoten keine Blutgefäße einwandern und T-Lymphozyten gehemmt werden. Fajgenbaum testet es seit 2014 an sich selbst, bei ihm schlägt diese Therapie an.
Betroffene tauschen sich aus
Die Patienten und ihre Bedürfnisse prägen die Arbeit des Forschungsnetzwerkes. Wie, das lässt sich auf dem alljährlichen „Castleman Patient Summit“ beobachten. Dieses Mal fand das Treffen im gläsernen Neubau des Universitätsklinikums in Philadelphia statt – spiegelnde Böden, Rolltreppen und riesige Bildschirme, auf denen Mediziner und Forscher der Klinik ihre Erfolgsgeschichten erzählen, darunter der weltbekannte Diabetologe Arthur Rubenstein.
Aus ganz Nordamerika, aber auch aus Europa waren Betroffene Mitte September angereist und erzählten sich, auf bunten Sofas sitzend, ihre Krankengeschichten. In einer Runde berichtete beispielsweise ein Brite, während der Therapie habe ein Virus sein Gehirn befallen, was ihm die Intensivstation eingebracht hätte. „Oh my God“, stammelte eine an der gleichen Form erkrankte Amerikanerin entsetzt. Es gab aber auch hoffnungsvollere Töne – und Umarmungen, die davon zeugen, dass viele der Patienten sich seit langem kennen und rege über ihre Krankheit austauschen. Wer wollte, konnte sich Blut abnehmen lassen, damit die Biobank um eine weitere Probe anwächst. Nach ihren Vorträgen freuten sich Experten wie Dustin Shilling oder Frits van Rhee über jede noch so laienhafte Frage aus dem Publikum. Sogar ein Castleman-Kämpfer wurde geehrt, der sich beim Spendensammeln besonders stark engagiert hatte. Nicht nur in diesem Moment wirkte die Veranstaltung leicht befremdlich, den Betroffenen aber schien es zu helfen, und Ärzte erhielten so die Möglichkeit, ihre Patienten besser zu verstehen.
Das Konzept kann auf andere Krankheiten übertragen werden
Das Konzept des Castleman-Netzwerks, davon ist Fajgenbaum überzeugt, kann auf andere seltene Erkrankungen übertragen werden – und auf andere Länder. Das schrieb der Amerikaner 2016 in dem Fachjournal Lancet Oncology. Ob das Konzept generell Chancen hat? Zu denjenigen, die das einschätzen können, zählt Christoph Klein, Leiter des Haunerschen Kinderspitals in München und des angebundenen Zentrums für Seltene Erkrankungen bei Kindern. Der Mediziner hat fünf Jahre in Harvard gearbeitet und geforscht, nach seiner Rückkehr eine gemeinnützige Stiftung für Kinder mit seltenen Erkrankungen gegründet und engagiert sich dafür, den Charity-Gedanken hierzulande zu stärken. Seiner Meinung nach könnte die Forschungs- und Versorgungslandschaft im Bereich seltene Erkrankungen in Deutschland noch verbessert werden. Klein spricht sich für eine klarere Strukturierung der Versorgung und eine gerechtere Allokation der Ressourcen aus: „Eine gute Patientenversorgung geht meist noch auf das persönliche Engagement einzelner Ärzte zurück.“ Ansonsten aber habe sich in Deutschland in diesem Bereich vieles bewegt. Wie in den Vereinigten Staaten spielen Patienten und Eltern kranker Kinder dabei eine wichtige Rolle; aber auch Betroffene wie David Fajgenbaum, die das Thema – gemeinsam mit ihren Ärzten – aus der eigenen Not heraus auf die politische Agenda bringen. Auf ihren Druck hin forderte die Europäische Kommission 2009 alle EU-Länder dazu auf, nationale Aktionspläne auszuarbeiten und umzusetzen.
An dem Plan für Deutschland war Klein beteiligt, und zu den Projekten, die schon umgesetzt wurden, zählt der sogenannte se-Atlas. Wer auf der zugehörigen Website (https://www.se-atlas.de/) eine Diagnose eingibt, findet auf einer Deutschlandkarte passende Ansprechpartner. Die Patienten können damit schneller einen Fachmann finden. Und Ärzten, die Unterstützung oder eine Zweitmeinung suchen, hilft zum Beispiel Christine Mundlos. Die Ärztin ist Lotsin bei der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, kurz ACHSE, dem deutschen Dachverband der Patientenvereine und Selbsthilfegruppen. Sowohl Klein als auch Mundlos würden sich wünschen, dass Klinik, Forschung und Industrie noch enger zusammenarbeiten. Seit 2000 existieren in Europa immerhin Gesetze, die eine Zulassung von Medikamenten erleichtern. Hersteller, die einen neuen Wirkstoff gegen eine seltene Krankheit auf den Markt bringen wollen, müssen die Gebühren für die Zulassung nicht bezahlen und erhalten für zehn Jahre ein Exklusivrecht. Außerdem kann der Anspruch an die Studien nicht so hoch sein wie bei herkömmlichen Medikamenten. Denn einerseits fällt es schwer, Betroffene dafür zu finden, andererseits sind Studien mit vielen Probanden teuer. Und wenn letztlich nur wenige hundert oder tausend Patienten das Medikament bekommen, decken sich die Ausgaben nicht mit den Einnahmen. An der Zulassungsstudie von Siltuximab für Morbus Castleman nahmen nur 79 Patienten teil.
Der Boom und seine Kehrseiten
Seit der neuen Gesetzgebung sind in der EU mehr als achtzig Medikamente für seltene Erkrankungen zugelassen worden. Dieser Boom hat allerdings seine Kehrseiten. Ein zusätzlicher Nutzen vieler Medikamente ist schwer zu quantifizieren oder einfach nicht besonders groß. Auch scheinen Kosten und Nutzen nicht immer in einem ausgewogenen Verhältnis zu stehen, und manche Substanzen kosten zwar Hunderttausende von Euro, helfen aber trotzdem kaum. Dass Pharmaunternehmen die Sonderkonditionen mitunter zweckentfremden, ist ein weiteres Problem. Zum Beispiel, wenn sie diese für Krankheiten nutzen, die in Europa zwar selten, weltweit jedoch recht häufig sind. Damit lässt sich etwa erklären, warum zwei neue Tuberkulose-Medikamente mit einer Sonderlizenz zugelassen wurden. Ebenso fragwürdig ist, was im Bereich der Onkologie geschieht, wenn Untergruppen von Krebskranken gebildet werden, die so klein sind, dass die Kriterien für medizinische Seltenheit greifen. Salami Slicing nennen die Gesundheitsökonomen das. „Pharmafirmen sind mit wenigen Ausnahmen gewinnorientierte Wirtschaftsunternehmen“, sagt Matthias Graf von der Schulenburg, der das Center for Health Economics Research in Hannover leitet. Dass diese die Regelungen nutzen, um Gewinn zu machen, damit müsse man rechnen und gegebenenfalls auf nationaler Ebene gegensteuern.
Manche Wirtschaftsexperten kritisieren bereits, das Geld, welches in die Erforschung der seltenen Erkrankungen fließt, könnte anderswo fehlen. Nützte es mehr Menschen, wenn man weiter an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Darmkrebs forsche? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, denn in der medizinischen Forschung zeigt sich ein Nutzen nur selten sofort. Wer sich Erkrankungen – insbesondere seltenen, genetischen – widmet, lernt so einiges über molekulare Schaltkreise des Körpers und findet vielleicht Mechanismen, die erst Jahrzehnte später in einer Therapie münden. Wie komplex und weitreichend die Zusammenhänge sein können, veranschaulicht ein weiteres Beispiel aus Amerika. Dort kümmerte sich der Kinderarzt Ogden Bruton Anfang der 1950er Jahre um einen seltsamen Patienten. Ein Achtjähriger erkrankte alle paar Wochen an einer Lungenentzündung, und nach einer Blutuntersuchung stellte Bruton fest, dass dem Jungen die gemeinhin als Antikörper bekannten und für die Immunabwehr essentiellen Gammaglobuline fehlen. Vierzig Jahre nachdem diese Brutonsche Agammaglobulinämie entdeckt worden war, stellte sich ein Defekt auf dem X-Chromosom als Ursache heraus. Das betroffene Gen enthält den Bausatz für ein Enzym, das Proteine mit einer Phosphatgruppe bestückt, um sie zu aktivieren. Im Normalfall reguliert diese Tyrosinkinase in B-Lymphozyten, wie häufig sich die Immunzellen teilen, wie schnell sie reifen und wie viele Antikörper sie freisetzen. Ihr Ausfall, der bei Patienten mit der Brutonschen Krankheit zu gravierenden Problemen führt, half später tatsächlich, eine Behandlung gegen Krebserkrankungen zu entwickeln. Weil Bruton seinen Patienten einst genau beschrieben hatte, erkannten Mediziner Jahrzehnte danach, wo sie ansetzen können, um eine überaktive Tyrosinkinase zu stoppen: Die sorgt bei bösartigen B-Lymphomen für Ärger, jetzt gilt der hemmende Wirkstoff Ibrutinib als bewährtes Gegenmittel.
Seltene Krankheiten gar nicht so selten
Je weiter die Erforschung seltener Erkrankungen fortschreitet, desto mehr zeigt sich, dass es ziemlich viele sind. Eine Studie aus dem Jahr 2006 schätzt, dass jedes Jahr an die 250 neue seltene Erkrankungen beschrieben werden. Dafür verantwortlich sind Wissenschaftler wie die Genetikerin Ashley Winslow, die am Orphan Disease Center der University of Pennsylvania die translationale Forschungsabteilung leitet. „Wir finden immer neue seltene Erkrankungen, und wir brechen manche Krankheiten in kleinere Gruppen auf, die dann per definitionem selten sind“, erklärt Winslow. Dementsprechend müsse die Medizin ebenso präziser werden. Zudem wird es immer preiswerter, das menschliche Erbgut zu entschlüsseln und darin genetische Erkrankungen aufzuspüren. Was zu Beginn des Jahrtausends noch Milliarden verschlang, kostet heute weniger als eintausend Euro – und dauert keine Jahre, sondern Tage oder sogar nur noch Stunden.
Wie die Genetik helfen kann, zeigt sich am Rett-Syndrom, das vor allem Mädchen betrifft und das zu Gehirnschäden führen kann. Die Diagnose fällten Ärzte bisher meist anhand der Symptome wie etwa eines seltsamen Gangs oder eines recht kleinen Kopfes. Atypische Rett-Patientinnen, zu denen die klinische Beschreibung nicht passte, gab es trotzdem, und einige bekamen häufiger als andere Krampfanfälle. Schließlich zeigten Genanalysen, dass bei ihnen ein bestimmtes Gen betroffen ist. Inzwischen ist diese CDKL5-Erkrankung als eigenständig anerkannt, und eine darauf zugeschnittene Therapie könnte in absehbarer Zeit erhältlich sein. In seiner ersten Erprobung verringerte das Medikament Ganaxolon die Anzahl von Krampfanfällen um fast die Hälfte – für die Patienten eine erhebliche Verbesserung.
Zum Abschied deutet David Fajgenbaum auf eine Pinnwand in seinem Büro. Daran haften Schnappschüsse von Patienten, die er behandelt oder auch nur kennengelernt hat. Der Arzt nimmt das Foto eines jungen Mannes ab, der erst vor kurzem erkrankte und auf der Intensivstation im selben Zimmer landete wie er selbst vor ein paar Jahren. „Gary hing an einer Beatmungsmaschine, und es ging ihm zunächst von Tag zu Tag schlechter“, erzählt Fajgenbaum. „Als ich ihn da liegen sah, dachte ich mir: Genau so muss ich vor fünf Jahren ausgesehen haben.“ Nach wie vor ist Fajgenbaum Castleman-Patient, aber zugleich Arzt. Einer, der mal Quarterback war und auf keinen Fall schnell aufgibt.
Die Recherche in den USA wurde finanziell durch ein Stipendium der Sir-Hugh-Carleton-Greene-Stiftung unterstützt.