Schizophrenie : Was heißt schon schizophren
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Max Goldinger (1908-1988): „Lokomotive“, 1980, verschiedene Materialien, 23 × 31 × 8 cm Bild: Foto Museum im Lagerhaus, Sammlung Mina und Josef John
Einst als „Spaltungs-Irresein“ bezeichnet, ist die Schizophrenie bis heute nicht verstanden. Wie andere psychische Krankheiten könnte sie völlig verschiedene Ursachen haben.
Am Anfang waren es nur ein paar kurze Halluzinationen. Nacht für Nacht wachte Maria K. auf und sah, dass die Rollladen an ihrem Fenster, wie von Geisterhand bewegt, auf- und zugingen. Das sei nur der Stress, meinte ihr Freund. Auch ihre Kopfschmerzen, ihre ungewohnten Launen und ihre Orientierungsstörungen schoben die beiden auf die harte 50-Stunden-Woche, die sie im Betrieb zu leisten hatte. Bis Maria zwei Monate später in der Firma mit einem epileptischen Anfall unter dem Tisch zusammenbrach. Das war im Januar 2009.
Danach klafft im Gedächtnis der jungen Frau ein schwarzes Loch. Von ihren Psychiatrieaufenthalten als angeblich Schizophreniekranke in Rottweil, Ulm, Ravensburg und Tübingen sind in ihrem Kopf nur noch Bruchstücke vorhanden. Die Tobsuchtsanfälle und die damit verbundenen Zwangsfixierungen kennt sie nur aus Erzählungen. Dumpf ist auch nur die Erinnerung an die zahlreichen Psychopharmaka, die sie schlucken musste, und an die Halluzinationen, bei denen sich die Menschen um sie herum aufzulösen schienen.
Nachdenklich beim Anblick der Frau Anfang 30, die mit einem eingefrorenen Lächeln, wie zur Wachsfigur erstarrt, vor ihnen saß, wurden erst die Ärzte an der Universitätsklinik Freiburg. „Die Anfälle, das Verhalten, die Diagnose - das alles wollte nicht so richtig zusammenpassen“, erinnert sich Ludger Tebartz van Elst, einer ihrer damaligen Ärzte. Eine Spezialuntersuchung ihrer Hirnflüssigkeit in Großbritannien brachte es schließlich an den Tag: Maria K. war gar nicht schizophren. Sie hatte ein körperliches Leiden. Antikörper des eigenen Immunsystems hatten in ihrem Kopf sogenannte NMDA-Botenstoff-Rezeptoren attackiert, dadurch eine Gehirnentzündung ausgelöst und die Nervenzellen der Patientin verrückt spielen lassen. Dank Blutwäsche und der Einnahme von Kortisonpräparaten lebt sie heute wieder ein einigermaßen normales Leben.
Antikörpertests sind nur in Freiburg und Berlin ein Regelfall
Das sei kein Einzelfall, sagt der Neurologe Harald Prüß, in dessen Berliner Charité-Ambulanz immer wieder solche angeblichen Schizophreniekranken, Hysteriepatienten oder Drogenpsychotiker auftauchen, die sich bei näherem Hinsehen als Autoimmunkranke entpuppen. In einer Studie in der Fachzeitung „Jama Psychiatry“ berichteten Wissenschaftler der Universitätsklinik Magdeburg vor zwei Jahren, sie hätten in einer Stichprobe von 120 neu diagnostizierten Schizophreniepatienten bei jedem zehnten derartige NMDA-Rezeptor-Antikörper gefunden. „Und wir entdecken alle paar Monate einen neuen Antikörper, der ähnliche Symptome auslöst“, sagt Prüß. Unter den schätzungsweise 700 000 diagnostizierten Schizophreniekranken in Deutschland sieht der Neurologe noch viele solcher unentdeckten Fälle schlummern; auf ein bis zwei Prozent schätzt er ihren Anteil. Vergangene Woche berichteten Prüß und seine Koautoren vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung und dem Berliner Zoo in „Nature Scientific Reports“, dass sie die verdächtigen Antikörper nun erstmals auch bei einem Tier gefunden hätten.
Wenn die Diagnose Schizophrenie einmal gestellt ist, wird sie bislang nur sehr selten hinterfragt. „Stattdessen ruht man sich gern darauf aus“, sagt Prüß. „Man braucht heutzutage schon etwas sehr, sehr Handfestes, bevor man so einem Patienten abnimmt, dass sein Problem nicht rein psychischer Natur ist.“ In Freiburg und Berlin bietet man inzwischen allen psychotischen Patienten Antikörpertests an. Aber das ist noch die Ausnahme.
Auch in manchen anderen Fällen ist die Diagnose Schizophrenie unzuverlässig. Wahnsymptome oder akustische Halluzinationen können beispielsweise genauso gut eine Folge der erblichen Stoffwechselerkrankung Morbus Niemann-Pick Typ C sein. Oder von einem epileptischen Anfall, einem Hirntumor oder einer Hirnentzündung hervorgerufen werden. Jedes dieser Symptome reicht für sich genommen schon aus, um einem Patienten eine Schizophrenie zu attestieren. Das schließt auch das Hören von Stimmen ein. Jeder siebte gesunde Europäer kennt dieses Phänomen aus eigener Erfahrung, hat der niederländische Psychiater und Epidemiologe Jan van Os von der Universität Maastricht ermittelt.
Die meisten Therapien versagen bei der Hälfte der Patienten
Der Freiburger Ludger Tebartz van Elst, einer der Leiter des Referats Neuropsychiatrie bei der psychiatrischen Fachgesellschaft DGPPN, fordert inzwischen sogar, das schwammige Krankheitskonzept der Schizophrenie gleich ganz abzuschaffen. Schizophrenie sei eigentlich nur ein Sammelbegriff für eine bunte Mixtur ganz verschiedener Syndrome, die in der Regel völlig verschiedene Ursachen hätten. „Das Konzept nützt weder Ärzten noch Patienten“, sagt Tebartz van Elst. Die Betroffenen würden nur unnötig stigmatisiert und die Forscher vergeblich nach neuen Heilmethoden für einen bunten Haufen von Auffälligkeiten suchen, die nur begrifflich unter einen Hut zu bringen sind. „Kein Wunder, dass wir wissenschaftlich so grandios erfolglos sind“, sagt der Mediziner.
Das gilt nicht nur für die Schizophrenie. Auch an der Einheitlichkeit anderer psychiatrischer Krankheitsbilder wie der Depression oder der bipolaren Störung regen sich Zweifel. Denn moderne Untersuchungsverfahren wie Gensequenzierungen und die bunten Bilder von PET- und MRT-Untersuchungen enthüllen hier plötzlich ganz unerwartete Ähnlichkeiten. „Viele genetische Faktoren, die gehäuft bei Depressionskranken zu finden sind, scheinen zum Beispiel auch bei der Entstehung von Autismus, Schizophrenie und dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom eine Rolle zu spielen“, sagt Markus Nöthen, Direktor der Humangenetik der Universitätsklinik Bonn. Auch auf den Hirnscans zeigt sich, dass die Trennungslinien zwischen den verschiedenen Krankheiten nicht immer sauber gesetzt sind. Die Aktivitäts- und Abbaumuster sind hier häufig nur schwer auseinanderzuhalten, während sich einzelne Schizophreniepatienten erstaunlich voneinander unterscheiden können.
Ernüchternd ist aber vor allem die Erfolgsbilanz beim Thema Therapie. Die meisten psychiatrischen Behandlungsmethoden, sagt Sarah Morris vom staatlichen Forschungsinstitut National Institute of Mental Health in den Vereinigten Staaten, versagten bei der Hälfte der Patienten: „Das zeigt, dass wir irgendetwas grundsätzlich falsch machen müssen.“ „Der Patient hat Besseres verdient“, sagt ihr Chef Tom Insel. Er will nicht nur die Schizophrenie, sondern gleich den kompletten bislang gültigen Krankheitskatalog der Psychiatrie abschaffen.
Die großen Diagnosekataloge helfen in der Praxis nur bedingt weiter
Im Gegensatz zu anderen medizinischen Fächern, so lautet jedenfalls seine Kritik, spiele es bei der Diagnose einer psychiatrischen Krankheit bisher kaum eine Rolle, welche Ursachen dahinterstecken. „Eine Panikstörung beispielsweise müsste man eigentlich ähnlich einordnen wie Blindheit oder Fieber“, sagt Andreas Meyer-Lindenberg, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. Hinter Fieber kann sich alles Mögliche verbergen, Blindheit kann nicht nur die Folge eines Schlaganfalls sein, sondern auch nach einer Ablösung der Netzhaut oder einer Trübung der Linse auftreten. Entsprechend unterschiedlich muss dann die Behandlung sein.
Die gängige Einteilung psychischer Leiden ist vor allem historisch zu erklären: Weil sich Psychiater, Psychologen und Psychoanalytiker einst nicht darauf einigen konnten, was genau im Kopf ihrer Patienten eigentlich schiefläuft, hat man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt: die Symptome. Große Diagnosekataloge wie das DSM-5 oder das ICD-10 fassen seitdem die Beschwerden, welche die Patienten objektiv an den Tag legen oder über die sie berichten, zu einzelnen Gruppen zusammen, denen man dann Etiketten wie affektive, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörung anheftet. Das funktioniert in der Praxis aber nur mit großen Abstrichen. Bei jedem fünften Patienten steht der Psychiater heutzutage vor dem Problem, dass die an ihm beobachteten Symptome nicht nur zu einer, sondern mindestens zu zwei weiteren Erkrankungen passen. Immerhin hat man mit der bisherigen Methode erreicht, woran man vorher zum eigenen Erschrecken gescheitert war: sicherzustellen, dass in jedem Krankenhaus am selben Patienten einigermaßen verlässlich auch dasselbe diagnostiziert wird.
Am National Institute of Mental Health hat sich Tom Insel vor zwei Jahren zu einem besonders radikalen Schritt entschlossen. „Wir haben uns gefragt: ,Was wäre, wenn wir alle bisherigen Einteilungen über Bord werfen und ganz von vorn anfangen‘“, erzählt seine Mitarbeiterin Sarah Morris. Im Rahmen eines sogenannten Research Domain Criteria Projects, an dem sie selbst mitwirkt, werden seitdem nicht mehr Schizophrenie, Depression und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom untersucht, sondern funktionelle „Domänen“ wie kognitive Verarbeitung, positive beziehungsweise negative Emotionen und soziale Interaktion. „Unsere Forscher studieren nicht länger Menschen mit dem Symptom Angst“, heißt es auf der Instituts-Website, „sie erforschen vielmehr den neuronalen Angst-Regelkreis.“
Dieser Ansatz beruht auf einer inzwischen etablierten Erkenntnis: Das Gehirn ist in Netzwerken organisiert, in denen einzelne spezialisierte Zentren zusammengeschaltet sind und unter Aufsicht eines übergeordneten Areals gemeinsam Aufgaben wie Emotionsregulation, kognitive Planung, Antrieb und Affektkontrolle erledigen. Ist eine der Untereinheiten oder auch nur die Verbindung in dem Regelkreis gestört, führt das zu ganz bestimmten Symptomen.
Hört der Patient zum Beispiel Stimmen, spielt möglicherweise das Sprachzentrum verrückt, das im Temporallappen angesiedelt ist. Es kann aber genauso gut sein, dass die dafür zuständige Kontrollinstanz im Frontalhirn nicht mehr in der Lage ist, Gedachtes und Gehörtes auseinanderzuhalten. Der Regelkreis kann auch aus dem Takt geraten, wenn er bei einem Gesunden von Geburt an besonders empfindlich ausgelegt ist. „Wer schon beim Konsum von Marihuana Stimmen hört“, sagt Tebartz van Elst, „dessen Gehirn ist wahrscheinlich einfach besonders nah am Halluzinieren gebaut.“
In dem bisherigen Verständnis steckt jede Menge Wissen - und Fehler
Allerdings sind sich nicht alle Wissenschaftler einig, welches die entscheidenden Regelkreise sind. Am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim hat sich dessen Chef Andreas Meyer-Lindenberg noch einmal neu auf die Suche gemacht. Viele Risikofaktoren der psychiatrischen Krankheiten seien bekannt, sagt er. Man kenne inzwischen die entsprechenden Genvarianten und wisse, welche Umwelteinflüsse besonders gefährlich sind. So scheinen zum Beispiel Faktoren wie die Geburt in einer städtischen Umgebung, sexueller Missbrauch oder ein Migrationshintergrund der Eltern die Entwicklung einer Schizophrenie zu begünstigen.
Vom kommenden Jahr an wollen die Mannheimer Wissenschaftler in einem neuen, von Bund und Land geförderten Zentrum für innovative Psychiatrie- und Psychotherapieforschung gründlicher studieren, was eigentlich das Gehirn eines gesunden, in der Stadt geborenen Menschen oder das eines Schizophrenie-Gen-Trägers von dem eines Menschen ohne diese beiden Risikofaktoren unterscheidet. Hirnzentren und neuronale Verbindungen, die bei diesen Untersuchungen besonders häufig ins Auge fallen, müssten, so jedenfalls die Theorie, auch bei der Entstehung der entsprechenden Krankheit und im zugehörigen Regelkreis eine entscheidende Rolle spielen. Gelänge es erst einmal, diese Strukturen zu sogenannten Konvergenzsystemen zusammenzufassen, würde man jene Netzwerke identifizieren können, die bei der Entstehung der Krankheiten die entscheidende Rolle spielen.
Diese Vision teilt Meyer-Lindenberg mit seinem amerikanischen Kollegen Tom Insel: Beide träumen von einer Psychiatrie, die statt der bisherigen psychiatrischen Krankheiten nur noch Störungen von funktionellen Regelkreisen behandelt, die sie zuvor mit Hilfe von Bildern und Labormessungen aufgespürt hat. Bis es so weit sei, werde es aber noch Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte dauern: „Jedes neue System muss erst einmal beweisen, dass es für den Patienten therapeutisch einen Fortschritt bedeutet“, sagt Meyer-Lindenberg „Auch die bisherigen Definitionen wurden ja nicht ausgewürfelt - da steckt eine Menge Wissen und Erfahrung drin.“ Und eben der ein oder andere Fehler.