Kastratensänger : Ein tiefer Schnitt für den Wohlklang
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Übernatürlich hohe Stimmen waren im Barock beliebt. Den Part übernahmen Männer, die noch im Kindesalter unters Messer kamen: Kastraten. Ihr Gesang war engelsgleich, ihr Körper verstümmelt. Im 18. Jahrhundert wurden allein in Italien rund 500.000 Knaben entmannt. Das überlebten nicht alle von ihnen.
Es war Ekstase! Begeisterung! Bezauberung! Nichts Geringeres als das diagnostizierte der englische Musikhistoriker Charles Burney beim Publikum einer Aufführung der Oper „Artaserse“. Es war im London des Jahres 1734, und der 29 Jahre alte Star des Abends begeisterte mit seiner messa di voce, dem An- und Abschwellen von Tönen, so, „dass man ihm völlig fünf Minuten klatschte“. Er bezauberte seine Zuhörer allein durch die Stärke, den Umfang und den wunderbaren Klang seiner Stimme, versuchte Burney, 1726 geboren, die Wirkung des Gesangs von Farinelli später zu erklären: „Obwohl er während des Singens bewegungslos wie eine Statue auf der Bühne stand, war seine Stimme lebendig.“
Der Adel hofierte das Ausnahmetalent, man überhäufte ihn mit Geld und Pretiosen; der Prinz von Wales etwa schenkte diamantbesetzte Kniespangen, das wusste in London jeder. Damen fielen bei seinen Auftritten in Ohnmacht, einmal rief eine verzückt: „Es gibt einen Gott, und es gibt einen Farinelli.“ Und zumindest sein Ruhm ist seither unsterblich. Er ist der bekannteste Kastrat und seine Stimme bis heute ein Mythos, der Opernfans, Musikwissenschaftler, Sänger, Phoniater und Urologen gleichermaßen fasziniert. Die „lost cords“, die verlorenen Stimmbänder, sind auch nach dem Tod des letzten Kastratensängers, Alessandro Moreschi, das Thema von Fachartikeln. (Einen Eindruck von Moreschis Gesang bietet diese kurze Hörprobe.)
Es lebe das Messerchen
Farinelli, mit bürgerlichem Namen Carlo Broschi, versetzte England in Hysterie, was seine Kollegen Nicolini, Senesino oder Carestini so nicht vermocht hatten und manche Zeitgenossen spotten ließ, es sei in der Tat lächerlich, eine ganze Nation in einem solchen Zustand der Betörung zu sehen. Sie konnten nicht ahnen, wie Medien heute die Massen verführen, wussten nichts von der weltweiten Beatlemania oder dem TV-Tanz um Michael Jacksons goldenen Sarg. Pomp, Dekadenz und Euphorie sind keine Privilegien des Barock, ebenso wenig die Verstümmelung des Körpers für den Schritt ins Rampenlicht. Superschlanke Modelfiguren und die faltenlosen Gesichter der Hollywoodstars bezeugen das. Plastische Chirurgie und Magersucht – darin erkennt die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli die Schattenseiten des Ruhms von heute: „Wir entstellen unsere Körper im Namen der Schönheit. Sicher, jetzt legen sich Erwachsene freiwillig unters Messer, damals zwang man Kinder, trotzdem gibt es Parallelen, und auch wir werden auf gewisse Weise von Moden manipuliert.“ Es lebe das Messerchen, jubelte einst das Publikum; niemand huldigt heute Skalpell und Botoxspritze – dabei wäre das nur konsequent. (Hier einige Hörproben von Cecilia Bartoli, die Kastratenarien singt)
Zarte Engel verwandeln sich in Brummbären