Luftverschmutzung : Feinstaub und Ozon – mit Abstand die größte Pandemie
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Feinstaub-Alarm in Stuttgart. Der Beginn des deutschen Dieselstreits vor einigen Jahren. Bild: Picture-Alliance
Wissenschaftler sprechen von der anderen Pandemie: Die Luftverschmutzung durch Abgase zehrt an der Gesundheit, nicht nur der Lungen. Vor allem Älteren kostet es Lebenszeit. Mainzer Forscher haben die Folgen neu berechnet.
Einige Parallelen sind frappierend: Die Bezeichnung „Pandemie“ etwa, mit der viele Epidemiologen und Virologen die weltweite Verbreitung des neuen Coronavirus Sars-CoV-2 inzwischen beschreiben, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch zwei Monate nach Beginn der Seuche nicht überzeugt. Ähnlich vorsichtig geht sie bei einer anderen globalen Seuche vor, für die sie nach wie vor unter dem Rubrum „Epidemie“ energisch aufmerksam zu machen versucht: die Verschmutzung der Luft. Die WHO hatte das Thema, ehe die Infektionswellen der jüngsten Zeit zugeschlagen haben, ganz oben auf die Agenda gesetzt. Und wie bei der Virusseuche nehmen jetzt auch bei der Schadstoffepidemie die Epidemiologen und Mediziner das Heft der verschärften Alarmierung in die Hand: „Wir müssen uns klarmachen, die Welt hat es inzwischen mit einer Luftschadstoff-Pandemie zu tun.“ Der Satz stammt von Jos Lelieveld vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz.
Wir erinnern uns: Lelieveld hat sich schon nach dem Diesel-Skandal und in der Debatte um Fahrverbote als schärfster Gegner jener von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) unterstützten Lungenärzte profiliert, die das Schadstoffrisiko durch den Straßenverkehr partout herunterspielen wollten. Schon damals zeichnete sich allerdings international ab, dass sich die Einschätzung des Gesundheitsschadens, der von den Luftschadstoffen ausgeht, nicht zugunsten der Industrie entwickelt, sondern eher in Richtung Verschärfung der Schadstoff-Grenzwerte.
Nun legen die Atmosphärenforscher aus Mainz mit einem neuen Mortalitätsmodell nach. Dazu haben sie die aktuellen Daten der von Menschen verursachten Schadstoffemissionen – insbesondere Feinstaub und Ozon – ebenso wie natürliche Emissionen mit den entsprechenden chemischen Reaktionen in der Luft kombiniert. Berechnet wurden daraus über den gesamten Globus die Auswirkungen auf die Krankheitslast und Lebenserwartung.
Ihre Ergebnisse haben die Mainzer Forscher um Lelieveld und dessen Mainzer Kollegen Thomas Münzel in der international angesehenen Medizinzeitschrift der Europäischen Kardiologen-Gesellschaft, „Cardiovascular Research“ veröffentlicht. Allerdings betrachteten die Wissenschaftler keineswegs nur kardiovaskuläre, sprich: Herz-Kreislauf-Folgen der Luftverschmutzung. Die sind nach wie vor das gesundheitliche Hauptproblem bei den Emissionen. 43 Prozent der durch Luftschadstoffe verursachten vorzeitigen Todesfälle geht auf die Langzeitschädigung des Herz-Kreislauf-Systems zurück. Doch auch die anderen fünf Krankheitskategorien – von Lungen- und Hirnschäden bis zu Bluthochdruck und Diabetes – summierten sich auf: Bezogen auf das Jahr 2015, kamen die Forscher auf mindestens 8,8 Millionen vorzeitige Todesfälle.
Statistisch bedeutet das annähernd drei Jahre Lebenszeitverlust für jeden Erdbewohner. Wie das einzuordnen ist, lassen die Vergleiche mit anderen Risikofaktoren ahnen: Tabakrauch verkürzt die Lebenserwartung mit 7,2 Millionen Toten jährlich im Mittel um 2,2 Jahre, Aids um 0,7 Jahre, andere Infektionskrankheiten und Parasiten um 0,6 Jahre und Gewalttaten weltweit um 0,3 Jahre. Luftverschmutzung, um nur einen weiteren Vergleich zu bringen, übertrifft Malaria in der Schädlichkeit um das Neunzehnfache.
Doch nur um Durchschnittswerte ging es den Wissenschaftlern keineswegs: Sie haben zum ersten Mal rechnerisch die medizinischen Folgen der Luftverschmutzung auf der Ebene von Ländern und einzelnen Regionen abgebildet. Der Abgleich mit den – oft unvermeidlichen – natürlichen Emissionen, wie jenen aus Waldbränden oder Staubstürmen zeigt: Zwei Drittel der schädlichen Emissionen weltweit, achtzig Prozent in Industrieländern, stammen aus menschlichen Quellen und überwiegend aus Verbrennungsabgasen im Verkehr, Stromerzeugung und Industrie. Was die Schadstoff-Pandemie wiederum mit der gegenwärtigen Sars-CoV-2-Pandemie verbindet: Zum allergrößten Teil – 75 Prozent – leiden ältere Menschen über 60 Jahren unter der verschmutzten Atemluft.