Ernährungswissenschaft : Und dann noch ein Müsli
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Winston Churchill hätte dazu noch ein Glas Whisky und eine Zigarre geordert. Bild: Getty
Das Frühstück ist angeblich die wichtigste Mahlzeit des Tages. Manche sagen hingegen, es sei überflüssig. Oder gar schädlich wie Rauchen. Muss man das ernst nehmen?
Frühstücke wie ein Kaiser“, lautet eine alte Ernährungsregel, für die Otto von Bismarck Pate gestanden haben könnte. Er war zwar nur Kanzler des Deutschen Reiches, aber schon zum Frühstück legendär gefräßig. Koteletts, Gänsebrust und Spickaal standen der Überlieferung zufolge regelmäßig auf des Fürsten morgendlichem Speiseplan, sein Leibarzt berichtete von bis zu 16 Eiern, die Bismarck dabei verdrücken konnte, gefolgt von Cognac und Zigarre. Allzu sehr geschadet hat es ihm offenbar nicht – der eiserne Kanzler wurde immerhin 83 Jahre alt.
Wie wirken sich Art und Umfang dieser Mahlzeit auf unsere Gesundheit aus? Sollten wir tatsächlich ausgiebig frühstücken? Oder doch lieber sparsam wie ein Bettelmann? 176 Buchtitel zum Thema Frühstück finden sich allein in der Amazon-Rubrik „Ratgeber Ernährung“. Auch die Wissenschaft liefert dazu einen steten Strom von Studien, die Forschungsdatenbank Pubmed weist unter diesem Stichwort rund achttausend Fundstellen aus.
Dr. Terence Kealey, Frühstückskritiker
Einzelfälle haben natürlich nur begrenzte Aussagekraft. Mit anekdotischer Evidenz beginnt aber auch der neueste populärwissenschaftliche Beitrag zum Thema. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Breakfast is a Dangerous Meal“ berichtet der britische Biochemiker Terence Kealey, wie er seine überhöhten Zuckerwerte durch das konsequente Auslassen des Frühstücks unter Kontrolle brachte – und das, obwohl sein Arzt ihm ein regelmäßiges Frühstück besonders ans Herz gelegt hatte. Kealey belässt es aber nicht bei der Anekdote, sondern referiert eine Menge wissenschaftlicher Studienergebnisse, die seiner Meinung nach dafür sprechen, dass die vermeintlich wichtigste Mahlzeit des Tages in Wahrheit dick und krank macht. „Manche Leute halten mich für verrückt“, sagte er kürzlich der Londoner „Times“. „Aber dank meines Buches wird Frühstücken in zehn Jahren ebenso verrufen sein wie Rauchen.“
Dass Kealey zahlreiche Belege für die Gefahren des Frühstücks zusammentragen konnte, liegt in der Natur der Ernährungswissenschaft. Ein großer Teil ihrer Erkenntnisse basiert auf sogenannten Beobachtungsstudien, die mehr oder minder große Personengruppen über längere Zeit verfolgen und mehrfach zu ihren Ernährungsgewohnheiten befragen. Am Ende lassen sich aus solchen Datensätzen allerlei Korrelationen ableiten, bekannte Beispiele sind Rotwein, der vor Infarkten, und Erdbeeren, die vor Krebs schützen sollen. In Sachen Frühstück galt deshalb lange Zeit, dass es vor Übergewicht schütze. Klingt erst einmal unlogisch. Aber eine mögliche Erklärung war schnell gefunden: Wer gut frühstücke, beuge späterem Heißhunger vor.
Beim Thema Ernährung gibt es Belege für alles und sein Gegenteil
Das Problem bei solchen Studien ist stets dasselbe: Anders als in einem experimentellen Ansatz lässt sich die Vielzahl weiterer möglicher Einflussgrößen kaum kontrollieren. Am Ende bleibt meist offen, ob Rotweintrinker nun im Durchschnitt gesünder sind, weil sie Rotwein trinken, oder ob der beobachtete Effekt nicht vielmehr mit ihrem im Durchschnitt höheren Bildungs- und Einkommensniveau zu tun hat, das wiederum statistisch mit einer gesünderen Lebensweise einhergeht.
Korrelationen sind eben kein kausaler Zusammenhang, wie jeder Student in der ersten Statistikvorlesung lernt. Aus diesem Grund ist auch die immer wieder bestätigte Wechselbeziehung von ausgelassenem Frühstück und Übergewicht schwer zu interpretieren. Essen Frühstücksmuffel bei späteren Mahlzeiten umso mehr und nehmen deshalb unterm Strich mehr Kalorien zu sich? Oder sind es vielmehr gerade die Übergewichtigen, die durch das Auslassen des Frühstücks versuchen, ihr Gewicht zu reduzieren? Solche Fragen ließen sich in reinen Beobachtungsstudien nicht beantworten, kritisiert Kealey ganz zu Recht.
Frühstücksempfehlung nur für Kinder
Aussagekräftigere Studien, die gezielt den Effekt einer bestimmten Ernährungsgewohnheit auf gesunde Probanden untersuchen, sind in der Praxis oft nur schwer zu verwirklichen. Man müsste dafür eine größere Zahl von Freiwilligen finden und diese nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppe aufteilen: Die einen dürften nie frühstücken, Rotwein trinken oder Erdbeeren essen, die anderen müssten es jeden Tag tun. Weil das in der Praxis ethische und praktische Probleme aufwirft, bleibt es meist bei den erwähnten Beobachtungsstudien. Die haben als erste Hinweisgeber auf mögliche ursachliche Zusammenhänge, die dann gezielt überprüft werden müssen, auch durchaus ihren Wert.
All dies ist seriösen Ernährungsforschern selbstverständlich bewusst. Verfechter eines Frühstücks von bismarckschem Ausmaß wird man unter ihnen kaum finden, vielmehr scheint Kealeys Streitschrift offene Türen einzurennen. „Für Erwachsene gibt es keine zwingende Notwendigkeit, ein Frühstück einzunehmen“, sagt etwa Hans Hauner, Ernährungsmediziner an der TU München. „Wenn Sie morgens keinen Appetit haben oder lieber eine Viertelstunde länger schlafen wollen, ist das völlig in Ordnung.“ Kinder hätten allerdings schlechtere Reserven und seien auf eine regelmäßigere Kalorienzufuhr angewiesen. Anstatt seinem verschlafenen Kind ein Frühstück aufzuzwingen, könne man ihm aber ebenso gut eine gesunde, zuckerarme Zwischenmahlzeit in die Schule mitgeben, lautet Hauners Ratschlag. Allgemeingültige Empfehlungen in Sachen Frühstück hält er nicht für sinnvoll. „Da spielen individuelle Genetik und Gewohnheiten ebenso eine Rolle wie die Esskultur des jeweiligen Landes.“
Nur einen Kaffee oder ein mehrgängiges Menü
Die unterscheidet sich in der Tat gewaltig. Während es Italiener, Franzosen und Spanier morgens meist bei einem Kaffee mit oder ohne Croissant belassen, entspricht das traditionelle englische Frühstück eher den Vorstellungen eines Gargantua. Auf Vorspeisen wie eine halbierte Grapefruit oder ein Teller Frühstücksflocken folgt traditionell der Hauptgang mit gebratenem Speck, Würsten, Eiern und Bohnen, abschließend darf es dann noch Toast mit Orangenmarmelade sein. Winston Churchill rundete dies gern noch mit einem Glas Whisky und einer Zigarre ab, wie eine von ihm handschriftlich ergänzte Speisekarte aus dem Jahr 1954 belegt.
Nach „feiner englischer Sitte“ speist auch der Heiratsschwindler Bendix Grünlich in Thomas Manns „Buddenbrooks“. Gebratenes Kotelett und Rotwein werden ihm dort schon zum Frühstück gereicht. „Seine Gattin fand dies zwar vornehm, außerdem aber auch in so hohem Grade widerlich, daß sie sich niemals hatte entschließen können, ihr gewohntes Brot- und Eifrühstück dagegen einzutauschen“, kommentiert der Autor den morgendlichen Kulturkampf, der symbolisch für die unglückliche Ehe steht.
Ikone der Englishness
Vertraut man der English Breakfast Society, einer Gelehrtengesellschaft mit dem Ziel, diese „Ikone von Englishness zu alter Größe auferstehen zu lassen“, so lässt sich die Geschichte des „Fry up“, bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Damals hing dem Frühstück allerdings generell noch der Ruch der Völlerei an. Erst später wurde die Schlemmerei am Morgen zum Statussymbol des Landadels. Man musste es sich eben leisten können, den halben Tag im eigens eingerichteten Frühstückszimmer zu verbringen. Im Zuge der industriellen Revolution übernahm schließlich auch die Arbeiterschaft das herzhafte Zulangen beim Frühstück. Angesichts harter 12-Stunden-Schichten in den Fabriken sei das durchaus gerechtfertigt gewesen, sagt Hans Hauner. „Heute dagegen haben die meisten Menschen in Europa körperlich wenig anstrengende Bürojobs und leben im Nahrungsüberfluss. Echten physiologischen Hunger kennen wir kaum noch.“ Unter diesen Bedingungen mache uns unser evolutionäres Erbe zu schaffen: Frühmenschen mussten oft hungern, bevor das Jagdglück ihnen einen fetten Braten bescherte. Feste Essenszeiten oder gar ein gesittetes Frühstück hätten sie nicht gekannt, sagt Hauner.
Auch wenn es an paläoanthropologischen Belegen für die exakten Essgewohnheiten unserer Altvorderen mangelt – plausibel ist diese Erklärung für die in den Industriestaaten zu beobachtende Epidemie der Fettleibigkeit und die damit verbundenen Leiden Diabetes, Arteriosklerose und Bluthochdruck allemal.
Wer dick ist, verdankt das zu 40 Prozent seinen Genen
In Deutschland gelten nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts inzwischen rund ein Viertel aller Deutschen als stark übergewichtig oder adipös (Body-Mass-Index von mehr als 30). Die Tendenz ist, wie in den meisten Industrienationen, stetig steigend. Andererseits zeigt die vergleichsweise schlanke Mehrheit, dass Übergewicht auch kein unvermeidliches Schicksal ist. Welche Faktoren lassen also den einen aufgehen wie Hefeteig, während der andere mühelos sein Gewicht hält? Wissenschaftlich lässt sich darauf noch keine befriedigende Antwort geben. Gene spielen in manchen Fällen eine klare Rolle, sowohl was die sprichwörtliche Futterverwertung als auch die hormonelle Kontrolle des Appetits angeht.
So führen genetisch bedingte Defekte in einem Botenstoff-Rezeptor des Gehirns namens MC4R zu einem unstillbaren Heißhunger auf Fettes, wie Forscher um die Endokrinologin Sadaf Farooqi von der Universität im englischen Cambridge vergangenes Jahr im Journal „Nature Communications“ gezeigt haben. Farooqi schätzt, dass unser genetisches Profil vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Kalorienverfügbarkeit zu rund vierzig Prozent für unser Gewicht verantwortlich ist. Weil sich Dicke, statistisch gesehen, häufiger mit anderen Dicken zusammentun, um Familien zu gründen, ist auch ein erblicher Anteil an der beobachteten Zunahme der Fettleibigkeit nicht auszuschließen.
Entscheidend sind die Kalorien, nicht die Tageszeit
Farooqis Schätzung bedeutet im Umkehrschluss, dass die verbreitete Fettleibigkeit zum Großteil auf unsere individuell und kulturell geprägten Ess- und Bewegungsgewohnheiten zurückzuführen sind. Zu welcher Tageszeit man dabei wie viele Kalorien zu sich nimmt, ist nach Meinung der meisten Forscher weit weniger entscheidend als die insgesamt aufgenommene Energie. „Wenn man es schafft, das ausgelassene Frühstück bei der folgenden Mahlzeit nicht zusätzlich zu essen, dann kann diese Kalorienreduktion durchaus helfen, das Gewicht zu halten“, meint der Berliner Ernährungsforscher Andreas Pfeiffer. Auch größere Pausen zwischen Mahlzeiten, wie sie beim Auslassen des Frühstücks entstehen, hält Pfeiffer für günstig, weil sie die Flexibilität des Stoffwechsels fördern.
Frühstück oder nicht – diese Frage lenke nur von den eigentlich wichtigen Regeln einer gesunden Ernährung ab, findet Susan Jebb von der Universität Oxford. Da unterscheide sich Kealeys These wenig von all den anderen kursierenden Diätmoden, die mal das eine, mal das andere Essen wahlweise verteufeln oder zum Allheilmittel erklären. Konstant geblieben sind nur die Ratschläge der WHO. Sie lauten schlicht: weniger gesättigtes Fett, weniger Salz und weniger Zucker, dafür mehr Ballaststoffe, Obst und Gemüse. Ob man das nun morgens oder abends befolgt, ist egal.