Neurologie : „Musik verändert die Chemie des Hirns“
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Wie ist das möglich?
Bei Parkinson-Patienten ist unter anderem das Zeitempfinden gestört: Bittet man sie beispielsweise, bis zehn zu zählen, so zählen sie oft sehr langsam und unregelmäßig. Manche machen zwischendurch Pausen, ohne es zu merken. Vieles deutet aber darauf hin, dass ihr Zeitgefühl durch den Rhythmus der Musik gleichsam wieder getaktet werden kann. Und es gibt im Gehirn auch direkte Wechselwirkungen zwischen Musikverarbeitung und Motorik: Schon wenn ich einen Takt klatsche, werden bei ihnen – und bei Parkinson-Patienten – automatisch Strukturen im Gehirn aktiv, die auch eine wichtige Rolle bei der Ausführung von Körperbewegungen spielen: Areale des Prämotorischen Kortex etwa sowie die sogenannten Basalganglien. Das scheint die körperliche Agilität zu fördern. Im Detail verstehen wir diese Mechanismen noch nicht. Aber durch Musik gerät der ganze Organismus offenbar in eine Art Schwingung, die vielen Parkinson-Patienten dabei hilft, Bewegungen wieder mit mehr Leichtigkeit auszuführen. Besonders effektiv ist Tanzmusik. Und zwar die Stilrichtung, die den Patienten selbst am besten gefällt. Oft hält die Wirkung übrigens auch nach dem Musikhören noch etwas an, aber das ist individuell verschieden.
Menschen, die an Depressionen leiden, empfehlen Sie die Songs der Beach Boys.
Mag sein, dass Depressiven manchmal traurige Lieder helfen, um sich in ihren Gefühlen verstanden zu fühlen. Aber spätestens nach dem dritten Song sollte man zu positiv gestimmter Musik übergehen – auch wenn man sich dafür einen Ruck geben muss. In sehr vielen Fällen hilft fröhliche Musik nämlich dabei, die eigene Stimmung aufzuhellen. Absurderweise gelten in unserer Kultur negative Gedanken und Gefühle oft als schick. Dabei schaden sie auf Dauer der Gesundheit. Durch fröhliche Musik hingegen kann man die sogenannte Hippocampus-Formation stimulieren: eine Struktur, in der bis ins hohe Alter neue Gehirnzellen gebildet werden können. Das hält das Hirn jung, flexibel und fit.
Auf der Schwäbischen Alb haben Archäologen das wohl älteste Musikinstrument der Weltgeschichte gefunden: mehr als 35 000 Jahre alt. Wie klingen solche aus Geierknochen geschnitzten Flöten?
Ähnlich wie eine heutige Blockflöte. Die Klangfarbe der Steinzeit-Flöte ist lediglich etwas heller und rauschiger. Aber das älteste Musikinstrument? Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass noch deutlich ältere ausgegraben werden. Denn seit es den Homo sapiens gibt – also seit Hunderttausenden von Jahren –, gibt es auch Musik. Ich denke: Ohne Musik hätte es der Mensch gar nicht durch die Evolution geschafft.
Stimmt es, dass Ihnen die Kantaten von Johann Sebastian Bach dabei helfen, strukturiert zu denken?
Ja. Auch beim Schreiben meines neuen Buches habe ich daher die meiste Zeit über Bach gehört. Mir helfen Bach-Kantaten, meine Gedanken zu ordnen, obwohl ich selbst nicht genau erklären kann, weshalb. Aber auch wenn ich dann ganz tief ins Schreiben versunken bin, gibt es gerade bei Bach immer wieder Momente, in denen ich denke: „Ah, jetzt kommt gleich diese Passage, die ich so besonders liebe!“ Dann unterbreche ich die Arbeit für eine Weile und höre nur noch zu.
Wären Sie manchmal lieber wieder Geiger als Psychologieprofessor?
Ich liebe meinen Job. Und vereinzelt trete ich auch noch als Musiker auf, meist in Kombination mit einem wissenschaftlichen Vortrag. Doch von Zeit zu Zeit, wenn ich ein besonders tolles Konzert höre, denke ich schon: Gemeinsam mit solchen Meistern musizieren zu dürfen, dafür würde ich sehr viel geben.
Zur Person
Stefan Kölsch, geboren 1968, studierte am Konservatorium Bremen Violine, Klavier und Komposition. Von 1994 an absolvierte er an der Universität Leipzig ein Studium in Psychologie und Soziologie. 2000 promovierte er am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig zum Thema „Musik und Gehirn“. Anschließend war er Postdoc an der Harvard Medical School in Boston und leitete dann von 2003 bis 2007 die Forschungsgruppe „Neurokognition der Musik“ am Leipziger Max-Planck-Institut. Seit 2010 lehrt er Psychologie an der Freien Universität Berlin und seit 2015 an der Universität Bergen in Norwegen. Zuletzt erschien von ihm: „Good Vibrations – Die heilende Kraft der Musik“, Ullstein Verlag, Berlin 2019.